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Die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig ab 1945

Leipzig zählte vor 1933 mit über 11.000 Mitgliedern zu den größten Gemeinden im deutschsprachigen Raum. Unmittelbar nach der Befreiung lebten nur noch vierundzwanzig Personen jüdischer Herkunft in der Stadt. Doch bereits am 15. Mai 1945 konnte sich die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig neu konstituieren und die ehemaligen Büroräume in der Löhrstraße erneut beziehen. Richard Frank übernahm den Vorsitz und die Gemeinde gewann in den kommenden Monaten durch Rückkehrer*innen deutlich an Zuwachs.

 

Hilfe & Organisierung

Viele jüdische Überlebende suchten Hilfe im Gemeindehaus, sodass die Gemeindeverwaltung bald die Versorgung mit Unterkunft, Verpflegung und Medizin übernahm. Auch Hilfesuchende aus Osteuropa kamen. Sie wurden entweder auf Kosten der Gemeinde im Gebäude der ehemaligen Beth-Jehuda-Synagoge oder in Displaced Person-Lagern der amerikanischen Besatzungsbehörde in Kasernen im Norden untergebracht, die sogar einen eigenen Rabbinern stellte. Auch Nicht-Gemeindemitglieder organisierten sich, z.B. um den Rechtsanwalt Dr. Hans Birckner in der von ihm 1945 gegründeten „Interessensgemeinschaft ehemals Rasseverfolgter“.

 

Gedenken & Gemeindeleben

Die Gemeinde bemühte sich um die Wiederherstellung der Jüdischen Friedhöfe. Auf der Fläche der zerstörten Feierhalle des Neuen Israelitischen Friedhofs wurde am 8. Mai 1951 ein Mahnmal eingeweiht. Zwei Jahre später begannen die Arbeiten an einer neuen Trauerhalle und das Mahnmal wurde innerhalb des Friedhofs versetzt. In der nicht vollständig zerstörten Synagoge in der Keilstraße konnte bereits zu Rosch Haschana im September 1945 wieder der erste Gottesdienst stattfinden. Auch in der während der Schoa als „Judenhaus“ missbrauchten Beth-Jehuda-Synagoge wurde 1946 zum ersten Mal wieder ein Feiertag begangen. In der DDR-Zeit zog dort jedoch die Produktionsstätte des VEB Bettwaren ein. Bis zur Renovierung Mitte der 1990er war an dessen Decke noch ein verblichener Davidstern zu sehen.

Die antizionistische Kampagne der SED-Führung ab Ende 1952 löste auch in der Leipziger Gemeinde Verunsicherung aus und führte zur Flucht von 64 Mitgliedern. Der Verlust bedeutsamer Vorstandsmitglieder verhinderte Kontinuität und Belange der Gemeinde blieben von Seiten des DDR-Staats unbeachtet. Auch die zunehmende Überalterung führte in den folgenden Jahren zum Mitgliederschwund. Nicht immer konnten die für ein Gebet benötigten 10 Männer – ein Minjan – zusammenkommen. Zur Leipziger Gemeinde traten bald die Mitglieder der Israelitischen Religionsgemeinde Plauen, Delitzsch und Zwickau bei.

 

Restitution & „Wiedergutmachung“

Für die Rückgabe des vom NS-Staat beschlagnahmten bzw. unter Zwang veräußerten jüdischen Vermögens setzte sich früh der Rechtsanwalt und Verwaltungsdirektor der ehemaligen Gemeinde Fritz Grunsfeld ein. Auch der Vorsitzende der Leipziger Gemeinde Helmut Salo Looser (1908-1993), KZ-Überlebender und ehemaliges Mitglied der zionistisch-sozialistischen Jugendgruppe Habonim, hatte sich kritisch zur Frage der „Wiedergutmachung“ geäußert. Um die Ansprüche auf das alte Eigentum abzusichern fiel die Entscheidung den Namen „Israelitische Religionsgemeinde Leipzig“ beizubehalten. Ihr wurden bald mehrere ehemalige jüdische Grundstücke – z.B. die ehemaligen Synagogenstandorte – zurück übertragen.

 

Wandel ab den 1960er Jahren

Leipzig galt als weltoffene Gemeinde. Das zeigte sich auch in Besuchen ehemaliger Bewohner*innen, zum Beispiel dem Verband der ehemaligen Leipziger in Israel. Ab 1973 suchten Vertreter*innen der Israelitischen Gemeinde Kontakt zur „Arbeitsgemeinschaft Kirche und Judentum“. Vier Jahre später war der aus Polen stammende Auschwitz-Überlebende Gemeindevorsitzende Eugen Gollomb (1917-1988) der erste jüdische Referent auf ihrer Jahrestagung. In Zusammenarbeit fand anlässlich des 40. Jahrestages der Novemberpogrome eine Gedenkveranstaltung in der Leipziger Thomaskirche statt, ab 1979 auch regelmäßige Veranstaltungen, die Kenntnisse über das Judentum vermitteln und über Alltagsantisemitismus aufklärten.

 

Neue Freiräume

In den 1980er Jahren vergrößerten sich institutionelle und individuelle Freiräume für die geringe Zahl der praktizierenden Jüdinnen*Juden in Sachsen. Ein Beispiel dafür ist die Erfahrung von Chaim Adlerstein, Aron Adlersteins Enkel, der in der Leipziger Jüdischen Gemeinde aufwuchs. Kurz vor dem Ende der DDR im September 1989 durften Aron und einige Freunde an der 6. Sommeruniversität der Europäischen Union Jüdischer Studenten in Norditalien teilnehmen. Vorangegangene Einladungen hatten ihn aufgrund der Verweigerung der DDR-Regierung gar nicht erreicht. Auch der gesamtgesellschaftliche Aufbruch machte sich bemerkbar, als das Leipziger „Neue Forum“ zum Jahrestag der Novemberpogrome einen Schweigemarsch veranstaltete, der nach einem Friedensgebet in der Nikolaikirche zum Gedenkstein an der Gottschedstraße führte.

 

1990er bis Heute

Erste Immigrant*innen aus der ehemaligen Sowjetunion kamen im Juli 1991 in Leipzig an. Im Oktober 1994 waren bereits 60 Personen aus Städten wie Kiew, Odessa und St. Petersburg zur Leipziger Jüdischen Gemeinde hinzugestoßen. Einige erlebten rechtsextreme Gewalt. Davon erzählt der Schriftsteller Dmitrij Kapitelman, der mit seinen Eltern 1994 als Achtjähriger aus Kiew nach Leipzig-Grünau kam: „Es war absurd: Wir haben die Ukraine verlassen, weil man gesagt hat, dass Juden*Jüdinnen in Osteuropa von Antisemitismus bedroht seien und dass Deutschland eine historische Verantwortung für sie übernimmt – und dann erlebst du die Farce, dass du in Ostdeutschland von Nazis umzingelt bist und um dein Leben rennen musst.“

Koordinate
51.3390124, 12.380892710368
Bundesland
Sachsen
Barnet Licht am 1. Mai 1946 auf dem Karl-Marx-Platz in Leipzig
Aufnahmedatum
1. Januar 1946
Fotografiert von
NN
DA
Bildquelle (Woher stammt das Bild)
Wikiepdia
ggf. URL
https://de.wikipedia.org/wiki/Barnet_Licht#/media/Datei:Licht_dirigiert.jpg
Breite
1500
Höhe
1067
Lizenz
Public Domain
Gedenkstein von 1966 Leipzig
Aufnahmedatum
9. November 1982
Fotografiert von
Bundesarchiv
DA
Bildquelle (Woher stammt das Bild)
Wikiepdia
ggf. URL
https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fe_Gemeindesynagoge#/media/Datei:Bundesarchiv_Bild_183-1982-1109-023,_Leipzig,_Gedenkstein.jpg
Breite
575
Höhe
800
Lizenz
CC BY-SA 3.0
Ereignisse
Titel
Gründung der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig
Datum Von
1847-01-01
Datum Text
1847
Datum bis
1847-12-31
Epoche universalgeschichtlich
Titel
Weihe der Großen Gemeindesynagoge
Datum Von
1855-09-10
Datum Text
1855
Datum bis
1855-09-10
Epoche universalgeschichtlich
Titel
Weihe der Talmud-Tora-Synagoge in der Keilstraße
Datum Von
1904-01-01
Datum Text
1904
Datum bis
1904-12-31
Epoche universalgeschichtlich
Titel
Weihe der Beth-Jehuda-Synagoge in der Färberstraße 11
Datum Von
1921-01-01
Datum Text
1921
Datum bis
1921-12-31
Epoche universalgeschichtlich
Titel
Weihe der Ez Chaim-Synagoge
Datum Von
1922-01-01
Datum Text
1922
Datum bis
1922-12-31
Epoche universalgeschichtlich
Titel
Zerstörung fast aller Synagogen in Leipzig in der Nacht vom 9. zum 10. November
Datum Von
1938-09-09
Datum Text
9./10. November 1938
Datum bis
1938-09-10
Epoche universalgeschichtlich
Titel
Wiedereinweihung der Synagoge in der Keilstraße
Datum Von
1945-10-28
Datum Text
28. Oktober 1945
Datum bis
1945-10-28
Epoche universalgeschichtlich
Titel
Der Leipziger Jüdischen Gemeinde gehören 280 Mitglieder an, sie wächst bis Ende 1948
Datum Von
1947-01-01
Datum Text
1947
Datum bis
1947-12-31
Epoche universalgeschichtlich
Titel
Ab 1949 gehen die Mitgliederzahlen zurück, bis 1991 hält der Mitgliederschwund an
Datum Von
1949-01-01
Datum Text
1949
Datum bis
1949-12-31
Epoche universalgeschichtlich
Titel
Die Nachfolge im Gemeindevorstand treten ab Januar 1953 Richard Frank (Vorsitzender bis März), Ernst Goldfreund (Vorsitzender ab März), Heinrich Rosenthal und Moritz Engelberg an
Datum Von
1953-01-01
Datum Text
1953
Datum bis
1953-12-31
Epoche universalgeschichtlich
Titel
Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig ist von 1967 bis 1988 Eugen Gollomb (1917-1988)
Datum Von
1967-01-01
Datum Text
1967
Datum bis
1967-12-31
Epoche universalgeschichtlich
Titel
Von insgesamt 710 Mitgliedern jüdischer Gemeinden in der DDR gehören 73 der Leipziger Gemeinde an
Datum Von
1976-01-01
Datum Text
1976
Datum bis
1976-12-31
Epoche universalgeschichtlich
Titel
Erstmals findet ein gemeinsamer ökumenischer Gedenkgottesdienst statt, der in dieser Tradition bis heute gemeinsam mit dem Synagogalchor in der Thomaskirche durchgeführt wird
Datum Von
1980-01-01
Datum Text
1980
Datum bis
1980-12-31
Epoche universalgeschichtlich
Titel
Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig ist von 1988 bis 2000 der aus Polen stammende Auschwitz-Überlebende Aron Alderstein (1913-2000)
Datum Von
1988-01-01
Datum Text
1988
Datum bis
1988-12-31
Epoche universalgeschichtlich
Titel
Die Leipziger Gemeinde zählt im Mai 1991 nur noch 35 Mitglieder
Datum Von
1991-01-01
Datum Text
1991
Datum bis
1991-12-31
Epoche universalgeschichtlich
Titel
Neonazis schänden im Dezember 1992 den Alten Israelitische Friedhof
Datum Von
1992-01-01
Datum Text
1992
Datum bis
1992-12-31
Epoche universalgeschichtlich
Titel
Gründung des Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow auf der Grundlage eines 1994 gefassten Beschlusses des Sächsischen Landtags
Datum Von
1994-01-01
Datum Text
1994
Datum bis
1994-12-31
Epoche universalgeschichtlich
Titel
Im Januar 1998 wird mit Salomon Almekias-Siegl (*1946 in Marrakesch) erstmals nach 1945 ein Landesrabbiner für Sachsen berufen
Datum Von
1998-01-01
Datum Text
1998
Datum bis
1998-12-31
Epoche universalgeschichtlich
Titel
Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig ist von 2000 bis 2004 der Theresienstadt-Überlebende Rolf Isaacsohn (*1933)
Datum Von
2000-01-01
Datum Text
2000
Datum bis
2000-12-31
Epoche universalgeschichtlich
Titel
Am Ort der einstigen Synagoge Gottschedstraße wird 2001 eine Gedenkstätte eingeweiht
Datum Von
2001-01-01
Datum Text
2001
Datum bis
2001-12-31
Epoche universalgeschichtlich
Titel
Seit 2012 hat die Gemeinde mit Zsolt Balla einen eigenen Rabbiner
Datum Von
2012-01-01
Datum Text
2012
Datum bis
2012-12-31
Epoche universalgeschichtlich
Titel
Durch die Zuwanderung der „Kontingentflüchtlinge“ ist die Israelitische Religionsgemeinde in Leipzig auf ca. 1300 Mitgliedern gewachsen und bildet die größte jüdische Gemeinde in Sachsen
Datum Von
2016-01-01
Datum Text
2016
Datum bis
2016-12-31
Epoche universalgeschichtlich
Literatur
Anusiewicz-Baer, Sandra/Dämmig, Lara (Hrsg.): Jung und jüdisch in der DDR. Hentrich&Hentrich, 2021.
Held, Steffen: Zwischen Tradition und Vermächtnis. Die israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig nach 1945, 1995, Dölling und Galitz Verlag
Merthens, Lothar, Davidstern unter Hammer und Zirkel: die jüdischen Gemeinden in der SBZ/DDR und ihre Behandlung durch Partei und Staat 1945-1990. Olms, Hildesheim 1997. (Haskala Band 18)
Kapitelmann, Dmitrij et al.: Zwischen Postnazismus und Post-Migration, in: Erinnern stören bzw. Buch
Lange, Bernd Lutz/ Lorz, Andrea: Jüdische Spuren in Leipzig, 2016, Passage Verlag.
Talabardon, Susanne: Jüdisches Leben in der DDR. In: BPB Jüdisches Leben in der DDR | Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 | bpb.de
URL: Siehe weiterführende Links
Wittmann, Ella, in: Stadt Leipzig.
URL: Siehe weiterführende Links
Held, Steffen: Ein jüdischer Auschwitz-Überlebender in Leipzig. Eugen Gollomb und der Kampf gegen die israelfeindliche Politik der DDR, in: Anetta Kahane, Martin Jander (Hg.): Juden in der DDR. Jüdisch sein zwischen Anpassung, Dissidenz, Illusionen und Repression.
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