Erfurt
Neugründung der jüdischen Gemeinde 1945
Im Juni 1945 kehrten etwa fünfzehn einstige Gemeindemitglieder aus dem Ghetto Theresienstadt nach Erfurt zurück und gründeten gemeinsam mit anderen Überlebenden der Schoa eine Religionsgemeinde. Während einige bald nach Israel auswanderten, wuchs die Gemeinde durch Zuzug aus Osteuropa. Ende der 1940er Jahre stieg die Zahl der Mitglieder auf mehrere hundert an.
Der erste Vorsitzende der Nachkriegsgemeinde wurde für 17 Jahre Max Cars (1894-1961), der bereits vor der NS-Zeit ein Mitglied der Erfurter Jüdischen Gemeinde war. Anfangs fand das Gemeindeleben in gemieteten Räumlichkeiten am Anger 30/32 statt. 1951 schlossen sich die neuen thüringischen Gemeinden Eisenach, Gera, Jena und Mühlhausen zum Landesverband Thüringens mit Sitz in Erfurt zusammen. Die Jüdische Gemeinde erhielt 1948 den Alten Jüdischen Friedhof an der Cyriakstraße zurück, der in Folge der Zerstörung während des Novemberpogrome eingeebnet wurde. Nur drei Jahre später verkauften sie das Grundstück – offenbar nicht ganz freiwillig – wieder an die Stadt, die dort Garagen bauen ließ. Die Fundamente der Garagen bestanden teilweise aus Resten jüdischer Grabsteine. Obwohl der damalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Raphael Scharf-Katz in einem Brief klar machte, wie unerträglich dieser Umstand für gläubige Jüdinnen*Juden sei, wurde noch 1995 der Bau eines Trafo-Hauses auf dem Areal des Friedhofes genehmigt. Der Ort ist heute, dank der Errichtung eines Gedenksteins 1996 und den mittlerweile wieder aufgestellten Grabsteinen, wieder als Jüdischer Friedhof sichtbar.
Am 20. März 1947 beschloss der Rat der Stadt Erfurt, das vom Vorstand eingeforderte Grundstück der durch die Nationalsozialisten niedergebrannten Großen Synagoge wieder an die Jüdische Gemeinde zurückzugeben. Gleichzeitig arbeitete man an Plänen für einen Synagogen-Neubau. Diese wurden zunächst mit der Begründung abgelehnt, dass der geplante Bau zu „groß“ und „sakral“ wirken würde und sich nicht in das Stadtbild einfügen würde. Erst ein dritter Entwurf des Architekten Willy Nöckel für ein hohes und schlichtes Gebäude wurde 1951 von der Stadt genehmigt. Während in den anderen Jüdischen Gemeinden der DDR auf noch bestehende Räume zurückgegriffen wurde oder Räumlichkeiten für Gottesdienste umgewidmet wurden, erhielt die Jüdische Gemeinde Erfurt im Sommer 1952 als einzige Jüdische Gemeinde in der DDR einen Synagogen-Neubau.
Antisemitismus & Flucht
Vor dem Hintergrund des stalinistischen Schauprozesses gegen Rudolf Slánský Ende 1952 in Prag und der Sorge vor antisemitischen Repressalien, verließen Anfang der 1950er Jahre etwa zwei Drittel aller Jüdinnen*Juden die DDR. Unter ihnen war der ehemalige Vorstand der Synagogengemeinde Erfurt Günter Singer. Er hatte die Lager Theresienstadt, Auschwitz und Birkenau überlebt. Als er nach Kriegsende in seiner Geburtsstadt Breslau keine Familienangehörigen mehr vorfand, ging er nach Erfurt, um sich am Wiederaufbau der Jüdischen Gemeinde zu beteiligen. Die Warnung des Präsidenten des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR, Julius Meyer, im Januar 1953 bewegten Günter Singer sowie weitere Gemeindevorsitzende zur Flucht nach Westberlin. Singer nahm noch im gleichen Jahr den Dienst als Kantor bei der Jüdischen Gemeinde in Hamburg auf.
Gemeindestruktur ab den 1950er Jahren
Nicht nur Günter Singer, sondern zahlreiche Mitglieder der Gemeinde flohen im Jahr 1953. Auch in den folgenden Jahrzehnten litt die Gemeinde unter Mitgliederschwund und Überalterung. Die Gemeinden in Eisenach, Gera und Mühlhausen lösten sich auf und Erfurt blieb als einzige Gemeinde in Thüringen bestehen.
Anfang der 1960er Jahre wechselte die Gemeindeführung in Erfurt: Der ehemalige Vorsitzende Max Cars trat im März 1961 aus gesundheitlichen Gründen zurück. Ihm folgten Herbert Ringer (als Vorsitzender) und Siegbert Fein (als stellvertretender Vorsitzender) des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Thüringen. Von 1962 bis 1985 hatte Ringer zudem das Amt des Vizepräsidenten des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR inne. Im Anschluss übernahm Raphael Scharf-Katz den Vorsitz der Landesgemeinde.
Wandel
Erst in den 1990er Jahren wuchs das Interesse an der jüdischen Geschichte der Stadt. So gelangte beispielsweise das Wissen über die ursprüngliche Funktion des Gebäudes „An der Stadtmünze 4-5“ als einstige Synagoge (wurde ab 1884 zum Wohnhaus umgebaut) zurück ins öffentliche Bewusstsein. Betsaal, Mikwe und Thoraschrein dieser sogenannten Kleinen Synagoge wurden saniert. Seit 1998 wird der Ort als Begegnungs- und Kulturzentrum genutzt. 2009 wurde das Museum Alte Synagoge eröffnet. Eine mittelalterliche Mikwe, die 2007 bei archäologischen Untersuchungen entdeckt wurde, ist seit 2011 als musealer Raum erfahrbar.
Jüdisches Leben Heute
Seit 1990 wächst die Zahl jüdischer Einwohner*innen in Erfurt insbesondere durch den Zuzug aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Die Jüdische Landesgemeinde Thüringen verzeichnete 2012 über 800 Mitglieder, davon leben 550 in Erfurt. Mit dem Rabbiner Konstantin Pal kam im Herbst 2010 einer der ersten nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland ordinierten Rabbiner nach Erfurt.
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