Rückkehr und Wiederaufbau
Chemnitz – ab 1953 Karl-Marx-Stadt – war eine der DDR-Städte, in denen nach der Schoa eine jüdische Gemeinde wiedergegründet wurde. Die erste Gemeindeversammlung fand am 7. September 1945 auf Initiative von Siegbert Fechenbach (1892-1967) statt. Fechenbach war Kaufmann und Vorstandsmitglied der 1939 zerschlagenen Religionsgemeinde. Er lud in seine Privatwohnung am Stiftsweg 107 ein, da alle Gebäude der einstigen Religionsgemeinde zerstört waren. Das Wohnhaus diente bald als Betreuungsstelle, Ort für Gottesdienste und offizielle Adresse der Gemeinde. Im Juni 1946 hatten sich bereits 45 der zurückgekehrten Jüdinnen*Juden als Gemeindemitglieder registrieren lassen. Anfang 1948 zählte die Gemeinde 57 Mitglieder, die auch aus Orten wie Annaberg, Glauchau oder Waldenburg kamen.
Grund für die Suche nach Räumlichkeiten war unter anderem die Zerstörung der Synagoge am Stephansplatz. Dank Bemühungen des Gemeindevorsitzenden Fechenbach konnten Räume des Realgymnasiums (heute Georgius-Agricola-Gymnasium) genutzt werden. Seit dem Jahreswechsel 1948/49 wurde ein von der Stadtverwaltung zur Verfügung gestelltes Gebäude in der Straße der Nationen 1933 als Gemeindehaus für Versammlungen und als Bethaus verwendet. Für Gottesdienste erhielt die Gemeinde in den späten 1940er Jahren auch Unterstützung durch Gäste, wie zum Beispiel den Kantor Estrongo Nachama und den Rabbiner Martin Riesenburger.
Fluchtwelle und Gemeindestruktur
Der zunehmende Antisemitismus in der DDR führte 1953 zur Flucht vieler Gemeindemitglieder. Einer von ihnen war der gebürtige Chemnitzer Adolf Diamant (1924-2008), der als Chronist des jüdischen Lebens von Städten wie Chemnitz, Dresden und Zwickau bekannt wurde.
Als Folge der Fluchtwelle schrumpfte auch die Chemnitzer Gemeinde kontinuierlich, was zur Besorgnis führte. Denn von den 40 Mitgliedern im Dezember 1952 blieben nur 34 in der Stadt. Die existenzielle Herausforderung wuchs auch darin, die Selbstständigkeit gegenüber dem Landesverband zu verteidigen und nicht an die Leipziger Gemeinde angegliedert zu werden.
Spätes Gedenken
Jahrzehntelang wurde der jüdischen Opfer allein auf dem Jüdischen Friedhof gedacht, ehe am 13. November 1988 am ehemaligen Standort der Synagoge am Stephansplatz ein Gedenkstein des Chemnitzer Bildhauers Volker Beier eingeweiht wurde. Im Innenhof der Technischen Universität erinnert außerdem seit November 1988 ein Gedenkstein an den Beginn der Deportationen 1942 an diesem Ort. Hier befindet sich außerdem ein Grab, in dem geschändete Torarollen aus der 1938 zerstörten Synagoge beigesetzt sind.
Der Schriftsteller Stefan Heym
Ein bedeutender Chemnitzer war der Schriftsteller Stefan Heym (1913-2001), der als Helmut Flieg in ein gutbürgerliches jüdisches Elternhaus geboren wurde, und später in Berlin für die sozialistische Arbeiterzeitung schrieb. Nachdem er im Zweiten Weltkrieg in der US-Army diente, verließ er das US-amerikanische Exil und zog 1952 als überzeugter Sozialist mit Gertude Gelbin nach Berlin. In vielen seiner Bücher äußerte sich Heym kritisch gegenüber dem DDR-Staat. In seinem 1972 erschienenen Roman „Der König David Bericht“ rechnete er mit dem Stalinismus ab, und „Der Tag X“, in dem es um den Aufstand von Arbeiter*innen am 17. Juni 1953 ging, durfte erst gar nicht veröffentlicht werden. Bald konnten seine Bücher nur noch in westdeutschen Verlagen publiziert werden. Weil er den Roman „Collin“ über Parteiausschlüsse und Schikanen in der BRD veröffentlichen ließ, wurde Heym aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen.
In der Bürgerrechtsbewegung war Heym ab den 1980er Jahren aktiv. Berühmt wurde seine Rede auf dem Berliner Alexanderplatz nur wenige Tage vor dem Mauerfall am 4. November 1989.
Wandel seit den 1990er Jahren
Seit Ende der 1990er Jahre veränderte sich auch das Leben für Jüdinnen*Juden in Chemnitz. Ein Beispiel dafür ist die Gründung des Jüdischen Frauenvereins im Jahr 1999 durch Renate Aris (*1935), der Tochter von Helmut Aris. Sie war 1969 von Dresden nach Chemnitz gezogen, wo sie in der Gemeindeleitung aktiv wurde. Zum Wandel kam es aber auch durch den beginnenden Zuzug von Jüdinnen*Juden aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Auch Renate Aris erinnert sich an ihre Ankunft: „Es standen mitunter dreißig oder vierzig Leute täglich vor der Tür, die sich unserer Gemeinde anschließen wollten. Sie wurden erst in Heimen untergebracht, worum sich vorwiegend die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) und wir uns gekümmert haben.“ (Aris in BPB) Gemeinsam mit anderen Gemeindemitgliedern setzte sie sich erfolgreich dafür ein, dass den Neuankommenden dort eine Wohnung zugewiesen wurde, wo es jüdische Gemeinden gab.
Das jüdische Jugendzentrum
Der damals 16-jährige Michael Khurgin, dessen Familie aus der ehemaligen Sowjetunion stammte, baute um 2020 herum das jüdische Jugendzentrum „Yahalom“ auf. „Bei uns hat die Religion nicht immer so eine große Rolle gespielt, aber dennoch habe ich sehr viel vom Judentum mitbekommen. Schon als kleiner Junge feierten wir Feste in der Gemeinde und zu Hause. (…) In Chemnitz gab es prinzipiell viele jüdische Kontingentflüchtlinge. Wir fingen an, sie direkt anzusprechen, ob sie Lust hätten, in die Gemeinde zum JuZe zu kommen.“ (Khurgin in JA)
Rechte Gewalt und Solidarität
Bei den rechten Ausschreitungen in Chemnitz im Jahr 2018 gab es auch einen Angriff auf das seit 2000 bestehende koschere Restaurant „Schalom“ der Gastronomen Lars Ariel und Uwe Dziuballa, die in Karl-Marx-Stadt (heutiges Chemnitz) aufgewachsen waren. Auch bei dem seit 2023 geplanten Denkmal für Justin Sonder (1925-2020) wird bereits jetzt mit Schmierereien gerechnet. Justin Sonder, der zunächst Zwangsarbeit in Chemnitz leisten musste, und nach 1945 als Kriminalpolizist und SED-Mitglied lebte, holte 1987 die Vergangenheit ein, als er in Dresden im Prozess gegen einen lokalen Gestapo-Chef als Zeuge aussagte. Nach der Wende erzählte er über 30 Jahre lang an Schulen von seiner Lebensgeschichte.
Neuen Kommentar hinzufügen