Der ungarisch-jüdische Intellektuelle Georg Lukács wurde im 20. Jahrhundert europaweit bekannt. Er war Kulturkritiker, Literaturwissenschaftler, Philosoph, Marxist, Parteifunktionär – und vieles mehr. Bekannt ist er heute vorallem als einer der bedeutendsten marxistischen Theoretiker des 20. Jahrhunderts. Er durchlebte die Assimilation der jüdischen Bevölkerung und die Entwicklung einer Arbeiter*innenbewegung im ausgehenden 19. Jahrhundert, die Revolutionen um 1918 sowie den Realsozialismus unter und nach Stalin. Damit verlief sein Leben parallel zum geschichtsträchtigen 20. Jahrhundert mit seinen Zäsuren und Umbrüchen.

Bis heute sind Lukács und seine Gedankenwelt von Relevanz. Das verdeutlichen Wiederauflagen, Sekundärliteratur sowie immer wieder stattfindende Tagungen zu seinem Werk (z.B. „Georg Lukács im 21. Jahrhundert“ (2021) organisiert u.a. vom Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung anlässlich seines 50. Todestag). Aufmerksamkeit und Resonanz genoss Lukács aber auch unter Zeitgenoss*innen: So war der Schriftsteller Thomas Mann ein Bewunderer und lehnte seine Figur Naphta im bekannten Roman „Der Zauberberg“ (1924) an ihn an. Angesichts des Lebens und Wirkens von Georg Lukács stellt sich aber auch die Frage nach dem Platz jüdischer Intellektueller in der europäischen Arbeiter*innenbewegung.

Beruf
marxistischer Philosoph, Literaturwissenschaftler und revolutionärer Politiker
Geburtsdatum
13.4.1885
Geburtsort
Budapest
Literatur
Brease, Stephan, „Trotz aller Judaismen“. Georg Lukács und Walter Benjamin. Zum Ort zweier jüdischer Intellektueller in der europäischen Arbeiterbewegung, in: Markus Börner, Anja Jungfer und Jakob Stürmann (Hg.), Judentum und Arbeiterbewegung. Das Ringen um Emanzipation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Oldenburg 2018. Band 30 der Reihe Europäisch-jüdische Studien – Beiträge.
Dannemann, Rüdiger, Georg Lukács zur Einführung. Junios Verlag, Wiesbaden 2005.
Fekete, Éva/ Karádi, Éva (Hg.), Georg Lukács. Sein Leben in Bildern, Selbstzeugnissen und Dokumenten, Corvina Kiadó, Budapest 1981.
Gallée, Caroline, Georg Lukács. Seine Stellung und Bedeutung im literarischen Leben der SBZ/DDR 1945-1985, Tübingen 1996.
Gräfe, Karl-Heinz, Von der Asternrevolution zur Räterepublik. Ungarn 1918/19, in: UTOPIE kreativ, H. 168, Oktober 2004, S. 885-900.
Haber, Peter, Budapest. Eine kurze Einführung in die jüdische(n) Geschiche(n) der Stadt, in: Ebd. (Hg.), Jüdisches Städtebild Budapest, Frankfurt am Main 1999, S. 7-42.
Löwy, Michael, “Klassenbewusstsein”, in: Dan Diner (Hg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Im Auftrag der Säschsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Stuttgart 2012.
Lukács, Georg: Postscriptum zu: Mein Weg zu Marx (1957), in: Benseler, Frank (Hg.), Revolutionäres Denken. Georg Lukács. Darmstadt/ Neuwiedt 1984, S. 80- 89.
Plass, Hanno (Hg.), Klasse – Geschichte – Bewusstsein. Was bleibt von Georg Lukács‘ Theorie? Verbrecher Verlag, Berlin 2015.
Sonstiger Name
György Lukács, Georg Löwinger
Stationen
Titel
Aufwachsen in Budapest – Familie, Judentum & Freundschaften
Von
1885
Bis
1903
Adresse

Budapest
Andrássy út. 52
1062
Ungarn

Adressbeschreibung
bis 1990: Népköztársaság útja 52 (Straße der Volksrepublik)
Geo Position
47.506069054415, 19.063957142329
Stationsbeschreibung

Georg (György) Lukács wurde am 13. April 1885 als Georg Löwinger in Budapest in eine assimilierte jüdische Familie des Großbürgertums geboren. Im Jahr 1907 konvertierte die Familie zur evangelisch-lutherischen Religion. Georg Lukács wurde vermutlich nachträglich getauft. Dies lässt sich dem ungarischen Soziologen Zoltán Tarr zufolge als Wunsch interpretieren, durch Integration als Teil der Gesellschaft akzeptiert zu werden. In den vorausgegangenen Jahrzehnten hatte sich die Anzahl der jüdischen Bevölkerung Budapests erhöht und machte um 1900 ein Fünftel der Stadtbevölkerung aus. Die rechtliche und politische Gleichstellung von Jüdinnen*Juden in Ungarn im Jahr 1867 bedeutete keineswegs ein Ende von Diskriminierung. Viele erhofften, dass ihre Assimilation innerhalb der ungarischen Mehrheit gesellschaftliche Akzeptanz führt. Ein Mittel war die Angleichung an die ungarische Sprache. Das erfolgte auch in seiner Familie anlässlich der Adelssprechung 1901 durch den ungarischen Titel "von Lukács".

Georg Lukács‘ Mutter Adele (geb. Wertheimer) war gebürtige Österreicherin. Ihr Sohn beschrieb sie als streng und klug. Mit ihren Kindern Georg, dem älteren Bruder János und der jüngeren Schwester Mici sprach sie Deutsch. Das war Umgangssprache und Ausdruck der Habsburger Herrschaft. Sein Vater József Löwinger war sozial aufgestiegener Bankdirektor der Englisch-Österreichischen Bank. Er war säkularer Jude, der mit der Gründung eines jüdischen Staates sympathisierte. Auch der junge Lukács hatte dem Literaturwissenschaftler Stephan Braese zufolge in seiner Jugend ein Nahverhältnis zu seiner jüdischen Herkunft, dass sich auf seine philosophische Neigung ausgewirkt haben mag. Auf dem Schreibtisch stand das Foto eines Onkels, der in Zurückgezogenheit den Talmud auslegte. Mit diesem alternativen Lebensentwurf protestierte er gegen den Wunsch seines Vaters, ebenfalls Bankier zu werden. Als Kulturliebhaber förderte dieser junge Künstler und Wissenschaftler und war auch bereits für den Erfolg seines Sohns (finanzielle) Opfer zu bringen.

Der Schüler Georg Lukács besuchte wegen des guten Rufs ein evangelisches Gymnasium. Dort traf der er auf konservative Lehrer, die er mit seinem „Oppositionsgeist“ aufbrachte. Bereits als Gymnasiast las er viel und verfasste Dramen. Das Buch "Entartung" des Zionisten Max Nordau, welches er in der Bibliothek des Vaters fand, missfiel ihm. Stattdessen begeisterte er sich für die in der Familie verpönten Schriftsteller Leo Tolstoi und Henrik Ibsen und für das antike Heldenepos „Ilias“. Nachträglich erinnerte er sich an die prägende Lektüre des historischen Romans „Der letzte Mohikaner“. Entgegen der väterlichen Lehren erkannte er, das sich gutes Handeln nicht allein an Erfolg zeigt. "Mann kann auch dann richtig handeln, wenn die Sache nicht von Erfolg gekrönt wird …“ (Fekete/ Karádi 1981, 14), resümiert er später.

Bereits in seinen Jugendjahren bewegte Lukács sich in einem Freund*innenkreis, mit dem er über Theorie, Theater und Politik diskutierte. Der Freund Marcell Benedek, mit dem er die Leidenschaft für Literatur teilte, erinnerte sich an Lukács: „Seltsam, daß ich, der Sohn eines armen, von Bauernleuten stammenden Schriftstellers, […] vom Sohn des Generaldirektors der Englisch-Österreichischen Bank erfahre, daß es auf der Welt auch eine soziale Frage gibt [...].“ (Fekete/ Karádi 1981, 18). Darin wird neben dem Einfluss deutlich, dass Lukács sich in dieser Zeit zunehmend politischen Fragen zuwendete.

Titel
Studien- und Wanderjahre
Von
1903
Bis
1918
Adresse

Uferstraße 8a
69120 Heidelberg
Deutschland

Geo Position
49.413628745926, 8.6909906627178
Stationsbeschreibung

Nachdem Georg Lukács die Schule 1902 mit dem Abitur abgeschlossen hatte, studierte er Jura und Nationalökonomie. Nach seiner Promotion 1909 setzte er sein Studium im Bereich Literatur und Philosophie in Budapest, Berlin und Heidelberg fort. An der Berliner Universität besuchte er Vorträge des Philosophen Georg Simmel, der ihn in seinem Denken beeinflusste. Lukács, der an Privatseminaren in seiner Charlottenburger Wohnung teilnahm, wurde von Simmel in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit unterstützt.

Lukács knüpfte in diesen Jahren freundschaftliche Beziehungen zu Intellektuellen und Kulturschaffenden, die er bewunderte: Zum Beispiel der ungarische Filmkritiker und Regisseur Béla Balázs, der Dichter und Dramatiker Paul und den Philosophen Ernst Bloch. 1913 lernte Lukács in einem Urlaub mit dem Ehepaar Balázs die russische Malerin und Revolutionärin Jelena (Lena) Grabenko kennen, mit der ab 1918 für kurze Zeit verheiratet war.

1912 zog Lukács nach Heidelberg. Er wurde von Ernst Bloch begleitet, dessen Persönlichkeit und Denkart er schätzte. Hier hoffte er auf eine günstige Umgebung für seine Arbeit und quartierte sich bei der Familie einer ehemaligen Geliebten ein. Er arbeitete er an seiner Theorie zur Ästhetik, die bei Bloch, dem Philosoph Emil Lask und den Soziologen Max Weber „wohlwollend-kritisches Interesse“ hervorrief.

Ab 1914 verfasste der damals 31-Jährige mit „Die Theorie des Romans“ (1916) ein Buch über den historischen Roman. Für Lukács war dieses Genre eine „repräsentative Form des Zeitalters“. Bis heute gilt es als eines seiner zentralen Werke und Klassiker der Kulturtheorie des 20. Jahrhunderts. Lukács entwickelte seine Gedanken in zahlreiche Zeitschriften und wissenschaftlich-kulturellen Gesellschaften weiter.

Während des Ersten Weltkriegs wurde er durch Hilfe eines Bekannten vom Militärdienst befreit. Aus diesem Grund konnte er sich mit Vorträgen zu Literatur und Ethik im Programm des Budapester Sonntagskreis beteiligen. Das war ein Kreis von Intellektuellen, die sonntags bis spät in die Nacht im Haus der Familie Baláczs diskutierten. Hier traf er auch seine spätere Lebensgefährtin Gertrud Bortstieber wieder, mit der er seit 1906 über Familienkreise bekannt war. Mit ihr erlebte er erstmals eine neue Art von Verbundenheit.

Titel
Lukács als revolutionärer Politiker - Marxismus, KPU und Räterepublik
Von
1918
Bis
1920
Adresse

Budapest
Veres Pálné Straße 12
1053
Ungarn

Adressbeschreibung
Versteck (Atelier)
Geo Position
47.491635012905, 19.055908122045
Stationsbeschreibung

Mit Beginn des Ersten Weltkrieges war Lukács von der „Reaktion des deutschen Geisteslebens erschüttert […]“ (Fekete/ Karádi 1981, 63) und zog zurück nach Budapest. Auch die ungarische Reichshälfte der Habsburger Doppelmonarchie war gegen Ende des Ersten Weltkrieges von einer revolutionären Stimmung geprägt. Soziale und politische Konflikte spitzen sich zu, denn die hungernde Bevölkerungsmehrheit wünschte sich Frieden und politische Mitbestimmung. Viele organisierten sich zu diesem Ziel in Gewerkschaften oder linkspolitischen Gruppierungen wie dem besagten Sonntagskreis.

Lukács entwickelte sich in dieser Zeit von einem Theoretiker der Literatur zu einem Politiker der Praxis. Er strebte nach einer sozial gerechten Gesellschaft, wofür er sich der Arbeiter*innenbewegung zuwandte und sich mit den Schriften von Karl Marx auseinandersetzte. Diese sozialistischen Ideen prägten auch seine Philosophie, die fortan der Veränderung der Welt dienen sollte.

Nach der Niederschlagung der Monarchie und in Folge der Revolution im Oktober 1918 entstanden in Ungarn parallel zur bürgerlich-sozialdemokratischen Regierung Arbeiter- und Soldatenräte. Vergleichbar mit den Räterepubliken in Wien oder München wollten die selbstverwalteten Gremien tiefgreifende gesellschaftliche Verbesserungen umsetzen. Eine treibende politische Kraft dahinter war die soeben gegründete Kommunistischen Partei Ungarns (KPU).

Auch Lukács wollte sich nicht mit einem vorzeitigen Ende der revolutionären Umwälzungen zufriedengeben, wie er in einem Zeitungsausschnitt von November 1918 deutlich macht: "Wir alle, die wir Anhänger der jetzigen Umgestaltung sind, müssen klar sein, warum wir die Republik wollen. Denn wenn wir die Republik fordern, so wollen wir Bodenreform und Steuerreform, neue Sozialpolitik und neue Schulen, mit einem Wort die innere wirtschaftliche und soziale Wiedergeburt Ungarns … Mit der Erringung der Republik hat die Revolution erst begonnen und ist nicht zu Ende“ (Fekete/ Karádi 1981,80). Diesen radikalen Worten ließ er auch Handlungen folgen und trat Ende des Jahres 1918 der KPU bei.

In der Räteregierung, in der die Partei ab März 1919 in Ungarn an die Macht kam, wurde Lukács Volkskommissar für das Unterrichtswesen. Er trat für einen freien Zugang zu Kulturangeboten ein. In seinen Augen gehörten das „Bild, das Buch, die Schule [...] nicht denen, derer tatsächlicher oder rechtmäßiger Besitz sie sind, sondern denen, die aus ihr Freude und Erbauung schöpfen können“. (Grafe 2004, 897). In seiner Funktion setzte er eine Schulpflicht, Stipendien für Künstler*innen und Schriftsteller*innen, sowie kostenlosen Zugang zu Kunst, Museen und Universitäten um. Damit ermöglichte er einen einmaligen Aufschwung von Kultur und Kunst.

Die Räterepublik existierte nur 133 Tage. Äußere und innere politische Kräfte stellten sich ihr entgegen. Nach dem Einmarsch rumänischer Truppen im August 1919 herrschte in Ungarn der Großgrundbesitzer und Offizier Miklós Horthy, der bis 1940 eine autoritäre antisemitische Regierung anführte und später mit NS-Deutschland kollaborierte. Nach der Niederschlagung der Räterepublik wurde Lukács wie viele andere Kommunist*innen politisch verfolgt. Er versteckte sich zunächst in einem Künstler*innen-Atelier, das sich hier in der Veres Pálné Straße befand.

Titel
Lukács in der Wiener Emigration und seine Bedeutung als Autor
Von
1919
Bis
1929
Adresse

Isbarygasse 12
1140 Wien
Österreich

Geo Position
48.200896405367, 16.261337496887
Stationsbeschreibung

Ab 1919 lebte Georg Lukács in Wien. Dort angekommen wurde der politische Flüchtling aufgrund eines Auslieferungsgesuchs der ungarischen Regierung am 2. September verhaftet. Die Auslieferung verhinderte ein großer Unterstützer*innenkreis um Schriftsteller*innen und Freund*innen wie Ernst Bloch sowie Heinrich und Thomas Mann, mit dem er in Wien Bekanntschaft gemacht hatte. Daraufhin gewährte Österreich ihm bis 1930 politisches Asyl. Er kehrte allerdings öfter illegal nach Budapest zurück.

1920 heirateten Lukács und die (verwitwete) Getrud Bortstieber. Gemeinsam lebten sie ab Frühjahr mit ihren Kindern im Haus ihrer Schwester in Wien-Hütteldorf.

In Österreich verfasste Lukács eine Essaysammlung, die 1923 erschien und bis heute als Grundlagentext des westlichen Marxismus und der Kritischen Theorie gilt: „Geschichte und Klassenbewußtsein“. In der Tradition von Marx unternahm er nach der eigenen Revolutionserfahrung den Versuch, das Bewusstsein der Arbeiterklasse zu verstehen. Diese habe sich gegenüber der eigenen Arbeit, die im Kapitalismus zu einer Ware verkommen sei, entfremdet. Nur das Proletariat selbst könne diese Entfremdung in Form einer Revolution überwinden. Er führte für dieses Phänomen den Begriff der „Verdinglichung“ ein, der später von der Kritischen Theorie aufgegriffen wurde. Diese theoretischen Überlegungen waren es wohl, die Theodor W. Adorno 1925 dazu veranlassten, Lukács in Wien aufzusuchen. Das Werk wurde sowohl von sozialdemokratischer als auch von kommunistischer Seite kritisiert. 

Im Jahr 1929 wurde Lukács von der Kommunistischen Parteiführung zunächst nach Budapest geschickt, um die illegale Bewegung vor Ort zu organisieren. Nachdem ihm die Wiener Behörden die Aufenthaltsbewilligung entzogen hatten, emigrierte er 1930 in die Sowjetunion.

Titel
Berliner Schriftstellerverband & Moskauer Exil
Von
1929
Bis
1945
Adresse

Sophienstraße 18
10178 Berlin
Deutschland

Geo Position
52.526117230327, 13.401632583497
Stationsbeschreibung

In Moskau arbeitete Lukács in verschiedenen Redaktionen und wissenschaftlichen Instituten – u.a. am Marx-Engel-Institut. Im Auftrag der Exil-Partei verfasste er die „Blum-Thesen“. Darin stellte er Aufgaben für die Kommunistische Partei Ungarns auf, die sich für ihn aus dem Scheitern der Revolution ergeben hatten. Doch die Partei mit ihrer dogmatischen Haltung reagierte mit Kritik auf Lukács’ Ziel, den Marxismus aus seiner theoretischen Sackgasse zu befreien und drängte Lukács aus dem Zentralkomitee.

Im Sommer 1931 zog Lukács im Auftrag des Bundes Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller (BPRS) mit seiner Familie nach Berlin. Marxistische Theorie wollte er nun auch auf Kunst und Literatur anwenden. Er leitete die im Oktober 1928 gegründeten Organisation und arbeitete an ihrer Zeitschrift „Linkskurve“ mit. Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten 1933 wurde er aus Deutschland ausgewiesen und emigrierte ins sowjetische Moskau. Dort wurde er mit seiner Familie nach Taschkent (Usbekistan) evakuiert.

Aufgrund seiner Arbeit über den jungen Hegel erhielt Lukács am 28. August 1943 von der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion den Titel Doktor der philosophischen Wissenschaften. Im Sommer 1945 verließ er die Sowjetunion, um nach Ungarn zurückzukehren.

Aus nicht ganz geklärten Gründen überlebte Lukács die antisemitischen stalinistischen „Säuberungen“ ab Ende der 1920er Jahre, die sich gegen echte oder vermeintliche Kritiker*innen innerhalb der sowjetischen Führungsriege richteten. Nach eigener Aussage war er gezwungen „eine Art Partisanenkampf für meine wissenschaftlichen Ideen zu führen“. Er sah sich zur Selbstkritik gezwungen und revidierte nachträglich die Aussagen in „Geschichte und Klassenbewusstsein“, mit denen er von der Parteilinie abwichen war. Außerdem zog er sich aus der unmittelbaren politischen Tätigkeit zurück. Dennoch übernahm er wohl wie viele andere Exilierte vorherrschende Illusionen über Stalin und schätzte die Sowjetunion als den einzigen Staat ein, der den Nationalsozialismus bekämpfe.

Nach dem Tod Stalins zeichnete sich ein politischer Wechsel in der sowjetischen Politik ab. 1956 verurteilte der neue KPdSU-Vorsitzenden Nikita Chruschtschow die stalinistischen Verbrechen, was viele Kommunist*innen zur Neubewertung der Sowjetunion veranlasste. Durch den politischen Wandel bestärkt setzte sich auch Lukács sich in seinem Spätwerk mit dem Stalinismus auseinander. Erst nach der Öffnung der Moskauer Archive für Öffentlichkeit wurde bekannt, dass Lukács im Sommer 1941 für zwei Monate vom Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten NKWD im Gefängnis „Lubjanka“ inhaftiert, verhört und gefoltert wurde.

Titel
Lukács als Professor, Parlamentsabgeordneter und Unterstützer von Reformen
Von
1945
Bis
1971
Adresse

Budapest
Belgrád rakpart 2
1056
Ungarn

Geo Position
47.487722072323, 19.05596347589
Stationsbeschreibung

Bereits im Dezember 1944 begab sich Georg Lukács nach Budapest, wo er eine Professur für Ästhetik und Kulturphilosophie an der Universität Budapest erhielt. Seine Schüler*innen begründeten die sogenannte Budapester Schule. Diese Strömung des ungarischen Marxismus brach mit dem real existierenden Sozialismus und sah sich als Antwort auf den Stalinismus einem „radikalen Humanismus“ verpflichtet. Zu ihnen zählte auch die weltweit bekannte Philosophin Ágnes Heller.

International wurde Lukács auch durch seine Schriften über die Entstehung des Faschismus bekannt. Vor allem in der DDR „[avancierten] Lukács´ Schriften […] zu einer Art Handbuch für die proto-faschistische Kontamination der deutschen Geistesgeschichte“ (zeitgeschichte-online.de). Einer dieser Texte ist „Die Zerstörung der Vernunft“ (DDR: 1954, BRD: 1962), in dem er Nietzsche kritisierte und damit dessen Rezeption beeinflusste. Lukács setzte sich darin mit der Entstehung des Faschismus aus der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts auseinander. Er warf ihr „Irrationalismus“ vor, der unweigerlich zum Nationalsozialismus geführt habe. Von der Leser*innenschaft wurde der Text sehr unterschiedlich aufgenommen.

In den Jahren 1949 bis 1955 war Lukács Mitglied des ungarischen Parlaments. Politisch aktiv wurde er aber auch im Ungarnaufstand von 1956. Als Mitglied der KPU unterstützte die reformkommunistische Regierung unter Imre Nagy, der sich für einen „nationalen und menschlichen Sozialismus“ aussprach und damit Kritik in der Führung der Sowjetunion hervorrief. Als Nagy von der Leitung der kommunistischen Partei (MDP) aus dem Amt des Ministerpräsidenten enthoben wurde, regte sich innerparteilicher Widerstand.

Ein Ausdruck davon war der Petöfi-Kreis. Auch Lukács leitete im Sommer eine Debatte dieses heterogenen Diskussionsforums zum Thema Philosophie. Ab März 1956 war der Petöfi-Kreis wichtiger Impulsgeber politischer Veränderungen und trug der Historikerin Sabine Schön zufolge „maßgeblich dazu bei, dass sich in der ungarischen Gesellschaft ein politisches Klima des Aufbruchs und der Veränderungen etablieren konnte“ (Schön, zeitgeschichte-online.de).

Im Herbst 1956 wurde Georg Lukács Teil des Zentralkomitees und Minister für Volksbildung unter der Regierung Nagys. Doch als dieser erklärte den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt erklärte, stellte sich Lukács an die Seite der Sowjetunion und verließ aus Protest die Regierung.

Im Oktober 1956 gingen die Studierendenproteste in Budapest in einen landesweiten Aufstand über. Breite Teile der Bevölkerung forderten von der totalitär regierenden kommunistischen Partei eine Wiederaufnahme des Reformkurses. Doch die Sowjetunion griff ein und zerschlug die Proteste.

Wegen einer eintretenden Verfolgungswelle unter dem neuen sowjetfreundlichen Ministerpräsident János Kádár mussten viele Aufständige aus Ungarn fliehen. Auch Lukács wurde für mehrere Jahre nach Rumänien verbannt, verlor seinen Lehrstuhl und seine Parteimitgliedschaft. Ihm wurde ein Lehr- und Publikationsverbot auferlegt. 1957 kehrte er zurück. Während er zunächst als „revisionistisch“ und als „Abweichler“ galt, konnte Lukács im Laufe der 1960er Jahre wieder publizieren. 1969 wurde er wieder in die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei aufgenommen.

Lukács starb am 4. Juni 1971 in Budapest an einer Krebserkrankung.

Titel
Was bleibt von Lukács? Rezeption, Denkmalstreit, Jüdische Identität
Von
1971
Bis
Heute
Adresse

Budapest
Szent-István-Park
1137
Ungarn

Geo Position
47.518836219015, 19.051034827557
Stationsbeschreibung

Zur Aufarbeitung und Bewahrung seines Lebenswerks entstand in seiner Wohnung am Budapester Donauufer ein Archiv. Was aber bleibt heute von Georg Lukács?

Nach seinem Tod wurden Gedanken und Texte von Georg Lukács weiter gelesen und diskutiert. Spätestens 1968 wurden seine Werke von der Studierendenbewegung der Bundesrepublik wiederentdeckt. Vor allem mit seinem Essayband „Geschichte und Klassenbewusstsein“ beeinflusste Lukács die sogenannte Frankfurter Schule - eine auf Freud und Marx bezogene Theorieschule, die sich am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer entwickelte. 

Auch in der DDR hatte er als Begründer einer marxistischen Ästhetik eine zentrale Bedeutung. Seine literaturtheoretischen Schriften wurden nach dem Ungarnaufstand auch in der DDR als "Abweichlertum" abgelehnt. In den 1970er Jahren begann im literarischen Zusammenhang  eine intensive inhaltliche Auseinandersetzung mit ihnen.

In der Gegenwart ist die Erinnerung an den vielschichtigen Intellektuellen in Gefahr ausgelöscht zu werden. Seit dem Regierungsantritt einer rechtsnationalen Regierung unter Viktor Orbán und seiner Partei Fidesz 2010 ist die Auseinandersetzung über Lukács in Ungarn höchst politisch. Unter dem Vorwand der Renovierungsbedürftigkeit wurde sein Nachlass aus dem Lukács -Archiv in die Bibliothek der ungarischen Akademie der Wissenschaften überführt. 2018 wurde das Archiv aus politischen Motiven geschlossen. Mit der Gründung der „Internationale Stiftung Lukács-Archiv" (LANA) setzen sich seit 2016 unter anderem Universitätsprofessor*innen und frühere Mitarbeiter*innen dafür ein, dass das Archiv in die früheren Räumlichkeiten zurückkehrt.

Trotz  internationaler Protestwelle wurde im März 2017 auf Betreiben der rechtsextremen und antisemitischen Partei Jobbik die Lukács-Statue im Budapester Szent-Istvan-Park entfernt. An der Stelle wurde im Mai 2018 ein Denkmal für Bálint Hóman errichtet, der Ideologe des faschistischen Horthy-Regimes war und während der Shoah als Religions- und Bildungsminister für antisemitischen Gesetze verantwortlich war.

Wie steht es um das jüdische Selbstverständnis von Lukács? In einem Interview sagte er, er habe immer gewusst, dass er Jude sei. Das zeigte sich – wenn überhaupt – subtil. Der Literaturwissenschaftler Stephan Braese beschreibt, wie Ausdrücke von Lukács in Texten und Interviews auf die jüdische Tradition verweisen. Ein Beispiel dafür ist seine Zuwendung zu einem jüdischen Messianismus. Zum Beispiel setzte er sich intensiv mit Martin Bubers chassidischen Erzählung „Die Legende des Baalschem“ (1908) auseinander. Der Soziologe Michael Löwy beschreibt, wie Lukács‘ Vorstellungen messianischer Befreiung sich nach dem Ersten Weltkrieg mit Ideen gesellschaftlicher Umwälzung verbanden. In „Geschichte und Klassenbewusstsein“ habe er „die Leitmotive seines früheren Messianismus säkularisiert[…] und in profane marxistische Begriffe umgestaltet“. (Löwy, Klassenbewusstsein)

Eine Antwort lässt sich auch auch im Verhältnis von Judentum und Arbeiter*innenbewegung suchen. Jüdinnen*Juden bildeten seit dem späten 19. Jahrhundert einen überproportional großen Anteil in sozialistischen Bewegungen. Als „Weltbürger*innen“ spielte ihre jüdische Herkunft für sie eine untergeordnete Rolle. Ihr Sympathisieren mit sozialistischen Ideen lässt sich u.a. damit erklären, dass sie selbst von einer doppelten (allgemeinen und antisemitischen) Unterdrückung betroffen waren. Auch das Bedürfnis nach Emanzipation war dementsprechend stärker.

Sterbedatum
4.6.1971
Sterbeort
Budapest

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Autor
Sarah von Holt
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