Jüdisches Leben in Schwerin und Umgebung ab 1945
In Schwerin trat 1946 ein „Vorbereitender Ausschuss zur Bildung einer jüdischen Kultusvereinigung“ zusammen. Nach einem Zeitungsaufruf im April 1947 meldeten sich 70 Personen, die in Konzentrationslagern oder einer „Mischehe“ überlebt hatten. Die Vereinigung hatte ihren Sitz in der Grenadierstraße 55 (heute Friedenstraße), wo das Vorstandsmitglied und Mitglied der einstigen Gemeinde Hugo Mehler wohnte. Institutionelle Betätigung wurde erst wieder möglich als die Landesregierung am 7. Juni 1948 die zwei Jahre zuvor erbetene Schaffung einer Landesgemeinde Mecklenburg mit Sitz in Schwerin genehmigte. Den Vorsitz übernahm der in Breslau geborene sozialdemokratische Rechtsanwalt, KZ-Überlebender und Präsident des Oberlandesgericht Mecklenburg Franz Unikower.
Obwohl es bis 1994 die einzige Stadtgemeinde in Mecklenburg war, lässt sich die Nachkriegsgeschichte der Jüdischen Gemeinde Mecklenburg nicht auf Schwerin reduzieren, weil viele Mitglieder außerhalb wohnten, beispielsweise im brandenburgischen Prenzlau. Wiederum andere nicht religiös praktizierende Jüdinnen*Juden hatten kein Interesse sich einer Gemeinde anzuschließen.
Rückgabe von entzogenem Eigentum
Die Gemeinde sah ihre Aufgabe darin den einstigen Besitz zu sichern und auch privates enteignetes Vermögen wiederzuerlangen. Im Februar 1947 erhielt der Ausschuss drei Gebäude des ehemaligen Sitzes der Schweriner Gemeinde in der Schlachterstraße 3 und 5 zurück. Im Sommer 1948 hatte die sowjetische Militärverwaltung die Rückführung jüdischen Besitzes beschlossen, die allerdings von staatlichen Stellen herausgezögert wurde. Zwar wurden beispielsweise Äcker und Wiesen bei Parchim als auch Wohnhäuser in Schwerin an die rechtmäßigen Eigentümer zurückgegeben, doch viele Bemühungen schlugen fehl. Der Vorstand kritisierte die Behörden wegen deren Untätigkeit.
Religiöses Leben
Zu Beginn fanden die Schabbat-Gottesdienste wöchentlich im neu hergerichteten Betraum im Gemeindehaus am Schlachtermarkt statt. Die Wiedererrichtung der zerstörten Synagoge lehnte der Vorstand zuerst aus Kostengründen ab. Auf Judaica wie Gebetbücher und Thorarollen konnte die Gemeinde zurückgreifen, weil sie von der Gestapo verschont geblieben war. Ab den 1950er Jahren litt das Gemeindeleben darunter, dass es nur wenige und alte Mitglieder gab. Auch die Anreise aus anderen Landesteilen wurde bald zu weit und zu teuer. Bereits im Juni 1950 hatte die Gemeinde Schwierigkeiten einen Minjan zu bilden. Zu Gottesdiensten konnten Jüdinnen*Juden in Mecklenburg bald nur noch etwa drei Mal im Jahr zu hohen Feiertagen zusammenkommen.
Gedenken
Auf dem Jüdischen Friedhof an der Bornhövedstraße ließ der Vorstand im September 1948 ein Denkmal aufstellen, das an die Verwüstung in der NS-Zeit erinnerte. Im Jahr 1951 gelegte Gedenksteine erinnerten an einzelne jüdische NS-Opfer. Friedrich Broido ließ im Juni 1982 eine Gedenktafel am Gemeindehaus anbringen, die erstmals öffentlich an die Zerstörung der Synagoge erinnerte. Zwei Jahre später folgte im Gemeindezentrum eine Ausstellung über die NS-Verfolgung.
Antisemitismus
Obwohl sich die DDR als antifaschistischer Staat präsentierte, zeigte sich Antisemitismus im Alltag und auf staatlicher Ebene. Im Winter 1952/1953 zeigte sich in der DDR ein spezifisch stalinistischer Antisemitismus der zur Folge hatte, dass ostdeutsche Jüdinnen*Juden aus Angst vor erneuter Verfolgung in die BRD flüchteten. Auch die Landesgemeinde Mecklenburg verzeichnete Wegzug, sodass sie im September 1953 nur 70 Mitglieder zählte. Während viele Repräsentant*innen der Jüdischen Gemeinde flohen, bildete der Gemeindevorsitzende Franz Unikower eine Ausnahme und blieb. In der Folge wurde er als Vorsitzender des 1. Strafsenats am Oberlandesgericht entlassen. Als der Auschwitz-Überlebende im Oktober 1956 auf Einladung des internationalen Auschwitz-Komitees nach Warschau fahren wollte, nahmen ihm Staatssicherheits-Mitarbeitende den Reisepass ab. Unikower, der mit Verwandten in Israel und Frankreich Briefkontakt pflegte, wurde, ähnlich wie anderen Opfern der Verfolgungswelle, Spionagetätigkeit unterstellt. Weil er mit einer Verhaftung rechnete, floh er noch am selben Tag nach West-Berlin.
Hoffnungen und Herausforderungen
Aufgrund der Nähe zur Ostsee organisierte die Landesgemeinde in den 1960er Jahren Ferienlager für jüdische Kinder und Jugendliche in der DDR. Der dreiwöchige Aufenthalt in Boltenhagen, Güstrow oder Alt Reddevitz sollte dem damaligen Gemeindevorsitzenden Alfred Scheidemann zufolge Jugendlichen eine positivere Einstellung zum Judentum vermitteln und angesichts der Überalterung die Zukunft der Jüdischen Gemeinden sichern.
Ende der 1960er steuerte die Gemeinde, die nurmehr 27 Mitglieder zählte, auf ihr vorläufiges Ende zu. Nach dem Rückzug Scheidemanns wegen Krankheit nahmen religiöse und soziale Aktivitäten ab. Ab 1975 wurde die Landesgemeinde vom Dachverband aus Dresden geführt und die Mitgliederzahlen gingen auf 13 im Jahr 1980 zurück. Einziges Schweriner Mitglied der Landesgemeinde Mecklenburg war Friedrich Broido, der sich 1981 bereit erklärte den Gemeindevorsitz zu übernehmen.
Neues jüdisches Leben
Noch durch die Volkskammer wurde im April 1990 beschlossen, verfolgten Jüdinnen*Juden in der DDR die Möglichkeit zu geben Asyl zu beantragen, woraufhin bis Mitte der 2000er Jahre Jüdinnen*Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland immigrierten. Im November 1992 kamen die ersten „Kontingentflüchtlinge“ in der zentralen Aufnahmestelle in Mecklenburg-Vorpommern an. Ihnen wurde Rostock als Wohnsitz zugewiesen und einige entschieden die Landesgemeinde wiederzubeleben. Als bald auch jüdische Geflüchtete in Schwerin lebten, verstärkte sich der Wunsch nach eigenständigen Gemeinden. Seit April 1994 bestehen zwei jüdische Religionsgemeinschaften im neu gebildeten Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern: Schwerin und Rostock.
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