Aufgewachsen in Brody, der – häufig so bezeichneten - „jüdischsten Stadt“ im Habsburgerreich, entwickelte sich bereits die 19-jährige Rosa Schapire nach der Übersiedlung in die Metropole Hamburg zu einer kämpferischen Feministin, die sich auch gegen die bürgerliche Frauenbewegung positionierte. Sie studierte Kunstgeschichte und wurde als eine der ersten Frauen in Deutschland in diesem Fach promoviert. In der expressionistischen Kunstszene vor dem 1. Weltkrieg fand sie Zugang zu vielen Künstlern (später auch zu Künstlerinnen), denen sie Ausstellungen vermittelte. Insbesondere mit dem Maler Karl Schmidt-Rottluff verband sie über das gemeinsame Kunstverständnis hinaus eine tiefe (platonische) Freundschaft. Eine vertraute Beziehung, die auch die Jahre schwieriger Kommunikation während des 2. Weltkrieges überdauerte, die Schmidt-Rottluff in Nazi-Deutschland und Rosa Schapire im Exil-Ort London verbringt. Trotz des ursprünglichen Plans, den Lebensmittelpunkt in die Vereinigten Staaten zu verlegen, blieb sie auch nach dem Krieg in London, wo sie am 1. Februar 1954 im achtzigsten Lebensjahr verstarb.
Zeitgenössische Künstler beschrieben Rosa Schapire so:
Sie ist „eine temperamentvolle Kämpfernatur, der die Unabhängigkeit und damit die Freiheit ihrer Meinungsäußerung über alles geht.“ (Harry Reuss-Löwenstein)
„Man liebte Rosa Schapire trotz ihrer leichten Verstiegenheit. Sie war heiter und hatte einen starken Charakter.“ (Friedrich Ahlers Hestermann)
Honcharska St 12
Brody
Oblast Lwiw
80601
Ukraine
Dort, wo in der galizischen Kleinstadt Brody, nordöstlich von Lwiw in der heutigen Ukraine, nur noch eine Ruine steht, stand im Spätsommer 1874 die Große Synagoge. In jenem Jahr, als Rosa Schapire geboren wurde, waren mehr als zwei Drittel derer, die in dem Städtchen im Herzen Galiziens wohnten, mosaischen Glaubens. Brody galt seinerzeit aufgrund seiner mehrheitlich jüdischen Bevölkerung und Prägung als die „jüdischste“ Stadt der Habsburger Monarchie. Die Synagoge war für die meisten Juden und Jüdinnen der Mittelpunkt des religiösen Lebens. Hier hatte einst Rabbi Israel ben Elieser (1698-1760), auch bekannt als "Baal Schem Tow" („Meister des guten Namens“), seine Ideen verkündet – die des orthodoxen Chassidismus, dessen Begründer er war. Aber selbst für assimilierte Familien wie die von Rosa Schapire war die Synagoge als kulturelles Zentrum ein wichtiger Ort.
1893 hatte Rosa Schapire mit ihrer Familie die Kleinstadt bereits in Richtung der Hafenmetropole Hamburg verlassen. Ein Verbleib im streng orthodoxen chassidischen Umfeld der Synagoge von Brody, in welchem das Leben der Frauen auf tradierte Rollenklischees reduziert war, wäre für eine Persönlichkeit wie der ihren ohnehin kaum vorstellbar gewesen. Ein Leben lang wird Rosa Schapire das radikal Andere verkörpern. Sie wird unverheiratet bleiben, auch kinderlos, und wird das für Frauen damals Unkonventionelle tun, nämlich eine Universität besuchen und sogar promovieren.
Schon als junges Mädchen hatte die Tochter eines Kaufmanns sich für die zeitgenössische Moderne Kunst interessiert, soweit dies in Brody möglich war. Wie auch ihre vier Schwestern war sie mehrsprachig aufgewachsen – man sprach in ihrer Familie neben Deutsch auch Polnisch, Französisch und wahrscheinlich etwas Russisch. Nicht zuletzt deshalb fühlte sich die junge Rosa Schapire offenbar bereits in der galizischen Provinz zum Internationalismus hingezogen. Später wird sie diese Neigung in einem Brief an die Kunstförderin und Freundin Agnes Holthusen als „von Geburt, Erziehung, Lebensschicksal bestimmt“ bezeichnen (zitiert nach Presler, S. 56). Hierfür war das weltgewandte Hamburg, in das sie mit ihrer Familie im Jahr 1893 gezogen war, ein idealer Lebensort.
Schmilinskystraße
20099 Hamburg
Deutschland
In Hamburg fing Rosa Schapire zunächst bei den kommunalen Elektrizitätswerken eine Ausbildung zur Kontoristin an. Parallel zu dieser beruflichen Tätigkeit begann sie sich für frauenpolitische Themen zu engagieren. Schon 1897 hatte sie in den vom sozialdemokratischen Publizisten Joseph Bloch herausgegebenen „Sozialistischen Monatsheften“ ihre erste nachweisbare Arbeit veröffentlicht. Der Aufsatz hatte den schlichten Titel: „Ein Wort zur Frauenemanzipation“. Darin distanzierte sich Rosa Schapire von der bürgerlichen Frauenbewegung, die lediglich die „Erschließung immer neuer Berufsarten für die Frau, Gütertrennung in der Ehe, Erweiterung der Rechte der Mutter“ forderte. Diesen als bürgerlich apostrophierten Forderungen stellte sie die Lage der Frauen aus dem proletarischen Milieu gegenüber und kam zu dem Schluss: „Die Lösung der Frauenfrage ist erst in einer Gesellschaft möglich, in der der Mensch den Beruf und nicht der Beruf den Menschen hat. […] Erst im sozialistischen Staat, von keinen inneren und äußeren Vorurtheilen eingeengt, als Schranke nur den eigenen sittlichen Massstab, wird es der Frau möglich sein, ein freier Mensch zu werden, sich dem Manne ihrer Wahl in freier Liebe hinzugeben und den Sprung aus dem Reich der Nothwendigkeit in das Reich der Freiheit zu machen“ (Schapire: Ein Wort zur Frauenemanzipation, S. 517.) Eine solche für damalige Verhältnisse gesellschaftspolitisch brisante Positionierung machte die junge Frau verdächtig und führte zeitweilig gar zu deren Beobachtung durch die politische Polizei.
In jener Zeit hatte Rosa Schapire Kulturvorträge gehört, die sie inspirierten, ein Studium der Kunstgeschichte aufzunehmen: so etwa vom Hamburger Kunsthallendirektor Alfred Lichtwark oder von Justus Brinckmann, dem Leiter des Museums für Kunst und Gewerbe. In Hamburg war ein Studium nicht möglich, denn hier gab es damals noch keine Universität. So ging Rosa Schapire nach ihrer Ausbildung zur Kontoristin zum Studium an die Universitäten von Zürich, Leipzig, Bern und Heidelberg, welches sie sich mit Übersetzungen und Sprachunterricht finanzierte. Im Jahr 1904 betreute der renommierte Heidelberger Kunsthistoriker Henry Thode ihre Dissertation. Obgleich sie publizistisch bereits öffentlich unkonventionelle Kunstansichten vertreten hatte, wählte sie ein eher unverfängliches Thema. Sie promovierte über Johann Ludwig Ernst Morgenstern, der an der Schwelle zum 19. Jahrhundert ein Architekturmaler in Frankfurt war. Die noch junge Disziplin der Kunstgeschichte war bis dahin eine Domäne der Männer gewesen, nun gab es also eine Doktorandin.
Als Rosa Schapire im Jahr 1905 nach Hamburg zurückkehrte, wohnte sie nicht mehr bei ihren Eltern, sondern bezog zunächst eine Wohnung in der Schmilinskystraße. Am 22. März 1908 kam es hier zur ersten Begegnung mit Karl Schmidt-Rottluff, einem der wichtigsten Vertreter des Expressionismus. Der zehn Jahre jüngere Maler und Graphiker sollte zu einer Schlüsselfigur ihres Lebens werden. Erst aus einem Briefwechsel zwischen den beiden – Jahrzehnte später – wird die Nachwelt erfahren, dass Rosa Schapire damals in der Schmilinskystraße gewohnt hat. Die konkrete Hausnummer aber konnten selbst ihre Biografen nicht mehr ermitteln. Kurze Zeit später zog Rosa Schapire in den Stadtbezirk Barmbeck um, in eine Wohnung, in der sie bis zu ihrer Emigration im August 1939 wohnen wird.
Osterbeckstr. 43
22083 Hamburg
Deutschland
Durch Vermittlung des Hamburger Sammlers und Mäzen Gustav Schiefler war es im März 1908 zu der, wie man heute weiß, folgenreichen Begegnung mit Karl Schmidt-Rottluff gekommen. Durch den expressionistischen Maler lernte sie noch im Laufe des Jahres 1908 weitere Mitglieder der drei Jahre zuvor gegründeten Künstlergruppe „Die Brücke“ kennen: Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel und Emil Nolde. Auch wenn Rosa Schapire ihren Lebensunterhalt weitgehend noch mit Kunst- und Sprachkursen an der Hamburger Volkshochschule, mit Führungen durch Ausstellungen und mit literarischen Übersetzungen (Balzac, Zola, Mauclair) verdienen musste, so war sie inzwischen durchaus auch eine renommierte Kunstrezensentin. Als solche konnte Frau Dr. Schapire den Künstlern nützlich sein. Hatte sie doch schon vor dieser Begegnung festgestellt, dass es, wie sie es formulierte, in der „Stadt der guten, frommen Beefsteakvertilger und gefüllten Kassen“ (zitiert nach Schulze, S. 89) aufgeschlossene Kunstkenner gab. Sammler, die sich nicht am Mainstream orientierten, sondern sich den Werken der Avantgarde zuwandten, wie eben der Jurist Gustav Schiefler. Entgegen dem konservativen Zeitgeist im späten Kaiserreich hatte sich auch Rosa Schapire für die Ausdrucksformen des Expressionismus begeistert. Nun besuchte sie die Brücke-Künstler in deren Dresdner Atelier und auch in Dangast, einem kleinen Dorf westlich von Bremerhaven, wo die vier in unmittelbarer Nähe zur Nordsee im Freien malten. Schließlich wird sie der Künstlergruppe als passives Mitglied beitreten.
Als Frau war Rosa Schapire im expressionistischen Milieu insofern eine Ausnahmeerscheinung, als ihre Geschlechtsgenossinnen üblicherweise als Modell fungierten oder die Rolle einer Muse oder Gattin (dies mitunter in Personalunion) einnahmen. Sie aber stand den Künstlern und später auch Künstlerinnen wie Anita Rée, Gretchen Wohlwill, Alma del Banco und Dorothea Maetzel-Johannsen aus rein beruflichem Interesse nahe. Sie nutzte ihr Renommee, um deren Werke an Galerien, Museen und Sammler zu vermitteln und in Ausstellungsrezensionen dafür zu werben. Auch nach der Auflösung der „Brücke“ im Jahre 1913 unterstützte sie weiterhin deren ehemaligen Mitglieder. Und diese dankten es ihr, indem sie ihre Förderin porträtierten und ihr Skizzen von aktuellen Bildern mit illustrierten persönlichen Grüßen zusandten. Bis zu ihrer Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland im Jahr 1939 war so eine Sammlung von mehr als sechshundert Werken entstanden.
Die besondere Beziehung zu Karl Schmidt-Rottluff hielt trotz dessen gelegentlicher antisemitischer Entgleisungen ein Leben lang. Im Jahr 1919 heiratete Karl Schmidt-Rottluff die Fotografin Emy Frisch und lebte mit ihr in Berlin, wohin er bereits 1911 gezogen war. Begegnungen mit Rosa Schapire fanden nun bevorzugt an dessen Urlaubsorten statt, so an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste in Hohwacht oder in Jershöft, einem Fischerdorf in Hinterpommern. Kurzzeitig kam es sogar zu einer kreativen Zusammenarbeit zwischen den beiden. Karl Schmidt-Rottluff hatte die Gestaltung der expressionistischen Zeitschrift „Die rote Erde“ übernommen, wofür Rosa Schapire auf Vorschlag des Malers und Dichters Karl Lorenz die Herausgeberin wurde. In den Jahren 1920/21 war sie dies, gemeinsam mit ihrem Kunsthistorikerkollegen Wilhelm Niemeyer, auch für die Kunstzeitschrift „Kündung“. In dieser Zeit gestaltete Schmidt-Rottluff auch ein Zimmer ihrer Wohnung im dritten Stock in der Osterbeckstraße zu einem expressionistischen Gesamtkunstwerk. Schmidt-Rottluff hatte die Wände mit grüner Leimfarbe bemalt und ein Rundbogenfenster als Kakteenfenster gestaltet. Auch waren sämtliche Möbel nach seinen Entwürfen vom Tischler und Innenarchitekten Jack Goldschmidt gebaut und koloriert worden.
Die Beziehung zwischen Rosa Schapire und Karl Schmidt-Rottluff ist von tiefer Freundschaft und gegenseitiger Bewunderung geprägt gewesen. Vor allem aber war es eine Beziehung auf Augenhöhe, wie es der Charakterisierung Rosa Schapires aus der Feder ihrer Biografin Susanne Wittek zu entnehmen ist: „Als alleinstehende, ökonomisch unabhängige Intellektuelle war sie Pionierin eines neuen weiblichen Selbstverständnisses.“ (Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung: Drei Fragen an Susanne Wittek)
Agnesstraße 1
22301 Hamburg
Deutschland
Nach Auflösung der „Brücke“ im Jahr 1913 suchte Rosa Schapire, um dem männlich dominierten Kunstbetrieb eine feministische Position entgegenzusetzen, nach Mitstreiterinnen. Sie fand solche in der Frauenrechtlerin und Mäzenin Ida Dehmel und der Schriftstellerin Magdalena Pauli, deren Mann Gustav im Jahr 1914 zum neuen Direktor der Hamburger Kunsthalle berufen worden war. Mitten im Weltkrieg gründeten die drei Frauen im Jahr 1916 gemeinsam mit einflussreichen Damen der Gesellschaft den „Frauenbund zur Förderung deutscher bildender Kunst“, der schon bald in verschiedenen deutschen Städten aktiv war. Augenscheinlich hatte Rosa Schapire zugunsten des Schulterschlusses mit Frauen aus wohlhabendem Hause ihre einst radikale Abgrenzung zur bürgerlichen Frauenbewegung aufgegeben. Die meisten ihrer neuen Mitstreiterinnen sahen sich nicht nur als Förderinnen von moderner Kunst, sondern gehörten auch einem der zahlreichen Frauenclubs an, in denen feministische Anliegen diskutiert wurden. Für Rosa Schapire eröffneten sich Möglichkeiten für Vorträge, in denen sie sich darum bemühte, eine spezifisch weibliche Form des Kunstkonsums zur Diskussion zu stellen. Schon seit Beginn des Krieges hatte sich Rosa Schapire für die „Frauenkünstlerhilfe“ und die „Künstlerinnenkriegshilfe“ engagiert. Bis zum Jahre 1920 waren von ihr acht Aufsätze in einschlägigen Kunstzeitschriften erschienen. In dieser Zeit war Rosa Schapire als Protagonistin einer feministischen Kunstgeschichte in den Hamburger Salons eine gern gesehene Referentin.
Dazu zählte auch die klassizistische Villa in der Agnesstraße 1 mit Blick auf die Außenalster. Sie wurde von Leo Alport und seiner Frau Valerie, eine geborene Mankiewicz, bewohnt. Beide stammten aus jüdischen Familien in Posen, wo sie einst heirateten und von wo sie gemeinsam an die Spree kamen. Leo Alport war Aufsichtsratsvorsitzender der Firma Beiersdorf (Nivea-Creme), die seinem Schwager Oskar Troplowitz gehörte. In seinem Besitz befand sich auch das repräsentative Gebäude, in dem die Alports wohnten. Valerie Alport hatte wie Rosa Schapire vor dem ersten Weltkrieg Kunstgeschichte studiert, allerdings in Paris. Nach dem Krieg hatte sie begonnen, eine Sammlung mit dem Schwerpunkt expressionistischer Kunst aufzubauen. So war sie mit Rosa Schapire in Kontakt gekommen. Da Valerie Alport in der Troplowitz-Villa regelmäßig neben Konzerten auch zu kulturellen Vorträgen einlud, begann Rosa Schapire hier und auch in anderen kulturellen Salons und Kunstclubs zu Beginn der 1920er Jahre mit ihrer Vortragstätigkeit, was zu einem nicht unwesentlichen Teil zu ihren Einkünften beitrug.
Hartungstraße 9-11
20146 Hamburg
Deutschland
In der Zeit des Nationalsozialismus vereinte Rosa Schapire in ihrer Person gleich mehrere Eigenschaften, die die sie den Nazis zunehmend verdächtig machte . Sie galt zunächst als eine Protagonistin der Moderne, jener künstlerischen Bewegung also, welche die Nationalsozialisten als „entartet“ bezeichneten und verfolgten. Zudem war sie Mentorin des nun verfemten Schmidt-Rottluff und schließlich führte vor allem ihre jüdische Herkunft sukzessive zur Ausgrenzung und schließlich zur Verfolgung.
Zunächst hatte Hamburgs Bürgermeister Carl Vincent Krogmann noch verfügt, dass Frau Dr. Schapire auch als Jüdin die Kunsthalle jederzeit betreten dürfe. Das aber ließ sich für ihn, einen linientreuen NS-Funktionär, auf Dauer nicht durchhalten. Die „Bitte“ des Leiters des Kupferstichkabinetts Wolf Stubbe, künftig wegen zahlreicher Nationalsozialisten unter den Angestellten von weiteren Besuchen der Bibliothek abzusehen, empfand sie als das, was es war: ein Hausverbot. Da Rosa Schapire aber nirgendwo angestellt und folglich auch nicht willkürlich aus einem Amt zu entfernen war, konnte sie ihre Vorträge zunächst noch öffentlich fortsetzen. So etwa in dem Haus des jüdischen Bankiers Max Werner, der im Hamburger Villenviertel Winterhude lebte. Aus Angst, denunziert zu werden, blieb allerdings mehr und mehr die nichtjüdische Zuhörerschaft weg, was die Einkünfte Rosa Schapires spürbar minderte. Sie hatte stets betont, zwar per Geburt jüdisch, ansonsten aber konfessionslos zu sein. Nichtdestotrotz wurde sie aufgrund der nationalsozialistischen rassistischen Politik mehr und mehr aus der Öffentlichkeit verdrängt. Ab 1935 blieb ich nur noch eine Betätigung in Hamburgs Jüdischem Kulturbund. Diese Organisation konnte ihre Veranstaltungen anfänglich noch im angesehenen Coventgarten in der Kaiser-Wilhelm-Straße durchführen. Bald zog man ins Curiohaus in der Rothenbaumchaussee um, ehe die jüdische Kulturinstitution im Januar 1938 in der Hartungstraße 9-11 eine Heimat fand. Dort, wo die jüdische Theatermacherin Ida Ehre nach dem Kriege die Hamburger Kammerspiele gründen wird, die sich hier noch immer befinden. Bis zur Pogromnacht im November 1938 stand auch der gemeindeeigene Tempel in der Oberstraße noch für Kulturveranstaltungen zur Verfügung. Rosa Schapire lud unter dem organisatorischen Dach des Jüdischen Kulturbundes zu wöchentlichen Treffen in ihre Wohnung, an denen aber fast nur noch ein ausschließlich jüdischer Personenkreis teilnahm.
Als im Jahr 1937 unter großem Propagandaaufwand in München die Ausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt wurde, fand sich auf der dort präsentierten Liste der „Kritiker der Systemzeit“ (Nazi-Jargon) auch der Name von Rosa Schapire. Sie wurde in Hamburg unter Hausarrest gestellt und konnte fortan nur noch unter Pseudonym publizieren. Dies alles waren Anlässe, sich nach einem Exil-Ort umzusehen. Ehe sie im August 1938 ein Schiff in Richtung England besteigen konnte, wurde nahezu ihr gesamtes Umzugsgut im Hamburger Hafen eingelagert: darunter neben dem Hausrat Teile der von Schmidt-Rottluff entworfenen Möbel, drei Mappen mit Grafiken von Nolde, Kirchner, Heckel, Pechstein und anderen, sowie 500 Bücher. Es war ihr nur gelungen, ihre Schmidt-Rottluff-Sammlung und die Künstler-Postkarten aus Deutschland zu retten. Das aber, was im Hamburger Hafen in Kisten verstaut eingelagert war, wurde zwei Jahre später als „Judengut“ von der Gestapo beschlagnahmt und in einer amtlichen Auktion am 30. und 31. Oktober 1941 in Hamburg öffentlich versteigert.
74-76 Prince's Square
London
W2 4NY
Vereinigtes Königreich
Am 18. August 1939 erreichte Rosa Schapire nach einer mehrtägigen Seereise England. Ihre mitgebrachte Barschaft betrug 10 Deutsche Reichsmark. Durch Beziehungen, welche die engagierte Feministin nach London hatte, kam sie zunächst im Ladies‘ International Club am Princes Square unter. Nun musste die Emigrantin zwar keine unmittelbare nationalsozialistische Verfolgung mehr befürchten, ein sicherer Ort aber war auch London schon bald nicht mehr. Knapp zwei Wochen nach ihrer Ankunft entfesselte Nazi-Deutschland mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg. Am 3. September 1939 erklärten das Vereinigte Königreich und auch Frankreich, dass sie ihren Bündnisverpflichtungen gegenüber Polen nachkommen werden, was einer Kriegserklärung an Deutschland gleichkam. Bis zum April 1940 verhielt sich Großbritannien militärisch passiv. Der britischen Regierung war klar, dass die Metropole London (damals mit einer Einwohnerschaft von über 8 Millionen die bevölkerungsreichste Stadt der Welt) ein bevorzugtes Ziel deutscher Luftangriffe sein würde. Das öffentliche Leben kam zum Erliegen, Theater und Opernhäuser wurden ebenso geschlossen wie die Museen und Galerien. Millionen von Gasmasken wurden an die Bevölkerung verteilt.
Bis Anfang 1940 war für Rosa Schapire noch die briefliche Korrespondenz mit dem Freund Karl Schmidt-Rottluff möglich, dann war auch dieser Kontakt in die Heimat für viele Jahre unterbrochen. Dies ist die Atmosphäre gewesen, mit der die Emigrantin an jenem Ort konfrontiert war, an dem sie Schutz vor den Verfolgungen der Nationalsozialisten gesucht hatte. Ihre Biografin Susanne Wittek stellt fest: „Aus der ersten Zeit im Exil liegen kaum Quellen vor, aus denen sich ihr Befinden entnehmen ließe.“ (Wittek, S.70) Nun hatte Rosa Schapire ja London lediglich als Transitort auf den Weg in die USA vorgesehen. Das jedenfalls ist dem „Fragebogen für die Versendung von Umzugsgut“ zu entnehmen, den sie noch in Deutschland ausgefüllt hatte. Daran aber war vorerst überhaupt nicht zu denken. Im März 1940 griff die deutsche Luftwaffe das Zentrum von London an und es fielen auch Bomben auf den Stadtteil Bayswater, in welchem Rosa Schapire wohnhaft war. Schließlich bezog sie in diesem Stadtbezirk ein kleines Appartement am Leinster Square, wo sie bis über das Kriegsende hinaus wohnen wird.
20 Barkston Gardens
London
SW5 0EN
Vereinigtes Königreich
Drei Jahre lang, von 1947 bis 1950, bewohnte Rosa Schapire ein möbliertes Zimmer unter der Adresse 20 Barkston Gardens im Museenviertel Kensington. In den verbleibenden vier Lebensjahren zog sie vier weitere Male um. Drei Mal noch innerhalb von Kensington, ehe sie im Jahr vor ihrem Tod im benachbarten Earls Court ein Zimmer in einem viktorianischen Gebäude am Nevern Place mietete. Für die ursprünglich geplante Übersiedlung in die Vereinigten Staaten fehlten ihr die Mittel, eine Rückkehr nach Hamburg aber war für Rosa Schapire schon aus emotionalen Gründen ausgeschlossen. Schließlich war von dort aus ihre Familie in die Vernichtungslager deportiert und ermordet worden. Obgleich ihre besten Freunde in Deutschland lebten, konnte sie sich, wie sie in einem Brief an Agnes Holthusen, der alten Freundin aus Frauenbund-Zeiten, schrieb, „nicht entschließen […], auch nur besuchsweise hinzugehen“. Holthusen war es, die Karl Schmidt-Rottluff in seiner Geburtsstadt Chemnitz ausfindig gemacht und den Kontakt zwischen den beiden wiederhergestellt hatte. Eine umfangreiche briefliche Korrespondenz mit Schmidt-Rottluff begann. Aus den Briefen der Rosa Schapire erfährt man, wie ihre persönliche und finanzielle Situation in London nach Kriegsende gewesen ist.
Für einige Jahre hatte sie noch ein regelmäßiges Auskommen, indem sie als feste Mitarbeiterin des Langzeit-Projekts „The Buildings of England“ landesweit auf Recherchereisen unterwegs war. Geleitet wurde das aufwendige Projekt von dem Architekturhistoriker Nikolaus Pevsner, der einst wie sie aus Deutschland emigriert war. Ferner übersetzte Rosa Schapire im Auftrag verschiedener Zeitschriften für geringe Honorare aus dem Polnischen, gelegentlich auch aus dem Französischen. Für eine große Henry Moore-Ausstellung in Düsseldorf und Hamburg übersetzte sie die Einleitung zum Katalog vom Englischen ins Deutsche. Ab 1950 schrieb sie in den Zeitschriften „Eidos“ und „Connoisseur“ über wichtige Ereignisse in der deutschen Kunst und Literatur. Die Schapire-Forscherin Burcu Dogramaci weist darauf hin, dass Rosa Schapire offenbar ganz bewusst eine kulturelle Mittlerfunktion zwischen den einstigen Kriegsgegnern Großbritannien und Deutschland übernahm. Zwischen Rosa Schapire und dem bald wieder in Berlin lebenden Karl Schmidt-Rottluff war es zu keiner Begegnung mehr gekommen.
Von London aus stellte Rosa Schapire bei den Behörden im Nachkriegsdeutschland einen Wiedergutmachungsantrag. Dabei ging es um jene Haushaltsgegenstände und Kunstwerke, die sie vor ihrer „Ausreise“ im Hamburger Hafen zurücklassen musste und die schließlich von der Gestapo für eine Auktion freigegeben worden waren. Trotz ihres Hinweises auf eine finanzielle Notlage ist darüber erst Ende der 1950er-Jahre, ein halbes Jahrzehnt nach ihrem Tod, entschieden worden. Rosa Schapire war am 1. Februar 1954 in der Londoner Tate-Gallery gestorben, jenem Museum, dem sie als Dank für die ihr in London entgegengebrachte Gastfreundschaft ihre Schmidt-Rottluff-Sammlung geschenkt hatte.
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