Adolph Moritz List, in der russischen Oblast Woronesch als Sohn eines deutsch-jüdischen Zuckerfabrikanten geboren, wuchs in Leipzig auf. Nach dem Schulabschluss und einer landwirtschaftlichen Ausbildung studierte er an der dortigen Universität Agrarwissenschaften und Chemie. Er promovierte und betrieb in Magdeburg gemeinsam mit dem russischen Chemiker Constantin Fahlberg (1850 – 1910) die weltweit erste Saccharinfabrik. Zu Wohlstand gekommen, begann Adolph Moritz List über Jahre eine Sammlung an europäischem Kunstgewerbe aus dem Zeitraum vom 13. bis zum 18. Jahrhundert aufzubauen. Die ungewöhnliche Sammlung umfasste Möbel, Zinngerät, Bronzen, Silber, Gold, Glas, Schnitzarbeiten aus Elfenbein und Buchsholz, Miniaturen, Emailarbeiten, Schmuck und Uhren, Stickereien, Bildteppiche, Steinzeug, italienische Majoliken, Delfter Fayencen, Porzellan, Zinn und kirchliches Metallgerät. Es befanden sich auch Gemälde in der Sammlung, vornehmlich aus dem 19. Jahrhundert, sowie Skulpturen, Ton- und Glasgefäße, außerdem Schmuckstücke der klassischen Antike.
Zu Beginn der NS-Zeit verleugnete Adolph Moritz List seine jüdische Herkunft und bezeichnet sich selbst als „Arier“, seine beiden Kinder waren zeitweilig sogar Mitglieder der NSDAP. Im Jahr 1937 wurde er auf einer Hauptversammlung der zur Aktiengesellschaft umgewandelten Firma von einem Kleinaktionär antisemitisch beleidigt und zum Rücktritt gezwungen. Im Jahr darauf starb Adolph Moritz List. Seine nichtjüdische Ehefrau und Erbin ließ die auf einen Wert von 1 Million Reichsmark taxierte Sammlung auf zwei Auktionen versteigern.
Ulitsa Oktyabr'skaya
Olchowatka
Oblast Woronesch
396670
Russland
Obgleich Adolph Moritz List am 12. November 1861 in Olchowatka im südrussischen Gouvernement (Oblast) Woronesch geboren wurde, war er nie russischer Staatsbürger – ebenso wie sein Vater, der in Berlin geborene Techniker Adolph List, und seine Mutter Flora List, eine geborene Fass. Sie verstanden sich als preußische Deutsche. Es ist nicht überliefert, inwieweit oder ob überhaupt die Familie des Adolph Moritz List hier oder am späteren Wohnort Leipzig in Verbindung mit der jeweiligen jüdischen Gemeinde stand. Der Umstand aber, dass sich Adolph Moritz List in der NS-Zeit (wenngleich letztlich ohne Erfolg) trotz seiner jüdischen Herkunft als „arisch“ bezeichnet haben soll und seine Kinder wohl zeitweilig sogar NSDAP-Mitglieder waren, spricht dafür, dass in der Familie kein religiöses Judentum gelebt worden ist. Auch die Tatsache, dass Adolph Moritz List im Jahr 1897 eine Nicht-Jüdin heiraten wird, kann dafür als Beleg gelten.
Die Oblast-Hauptstadt Woronesch war und ist in mehrfacher Hinsicht ein geschichtsträchtiger Ort. Erstmals urkundlich erwähnt wurde Woronesch im Jahr 1177. Bedeutsam war für die Geschichte des Ortes, dass Zar Peter der Große 1696 in der Stadt eine Schiffswerft zum Aufbau einer Flotte gründete. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Woronesch dann zum wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum des südwestlichen Russlands. Insbesondere die Agrarindustrie hatte mit Getreidemühlen, Butter-Manufakturen und Seifensiedereien große Bedeutung erlangt, ebenso der Handel mit Nahrungsmitteln wie Backwaren, Vieh, Salzen und Wolle. In dieser Zeit hatte der Vater von Adolph Moritz List in der zu Woronesch gehörigen Siedlung Olchowatka eine der ersten Zuckerfabriken Russlands errichtet. Dessen jüngerer Bruder Gustav baute ab dem Jahre 1856, nachdem er in den USA zum Mechaniker ausgebildet worden war, in der Zuckerfabrik seines Bruders eine erste mechanische Feuerlöschpumpe.
Adolf Moritz List wuchs in seinem Geburtsort nicht auf. In den Leipziger Adressbüchern finden sich Belege dafür, dass die Familie ab dem Jahr 1865 parallel zur Zuckerfabrik im russischen Olchowatka auch einen Wohnsitz in Leipzig besaß. Vier Jahre nach der Geburt von Adolph Moritz List waren seine Eltern dort erstmalig mit einem Wohnsitz in der Plagwitzer Str. 1 gelistet. Unter dieser Anschrift ist der Vater Adolph List mit der Berufsbezeichnung „Commissionair und Agent für Russland“ eingetragen.
Plagwitzer Str. 1
04827 Machern
Deutschland
In den Jahren 1867 bis 1871 sind Adolph List, der „Commissionair und Agent für Russland“, und seine Familie laut Leipziger Adressbuch in der Promenadenstr.16 (heute Teil der Käthe-Kollwitz-Straße) wohnhaft. Ab dem Jahre 1871 aber sind sie – wie schon 1865/66 – wieder mit einem Wohnsitz in der Plagwitzer Straße 1 registriert. Es ist nicht überliefert, wo der Sohn Adolph Moritz List die ersten Grundschuljahre verbrachte, fest steht aber, dass er ab dem Jahre 1873 die Leipziger Realschule besuchte. Dabei ist unklar, ob er an dieser Lehranstalt zunächst noch in der Schillerstraße 9 (am heutigen Kurt-Masur-Platz) unterrichtet worden ist oder erst in der Sidonienstr. 1 (der heutigen Paul-Gruner-Straße 50), wohin die Schule im Laufe des Jahres 1873 umgezogen war. Nach Beendigung seiner Schulzeit in Leipzig begann Adolph Moritz List eine mehrjährige landwirtschaftliche Lehrzeit auf verschiedenen Gutshöfen in der preußischen Provinz Brandenburg. Im Jahre 1882 begann er an der Universität Leipzig ein Studium sowohl der Agrarwissenschaften als auch der Chemie. 1886 schloss er seine Studien mit einer Promotion ab. Das Thema seiner Dissertationsarbeit lautete: „Untersuchungen über die in und auf dem Körper des gesunden Schafes vorkommenden niederen Pilze." Noch im selben Jahr trat Dr. Adolph Moritz List für seinen verstorbenen Vater als Komplementär in den Gesellschaftervertrag mit Constantin Fahlberg, seinem Cousin, zur Gründung der in Salbke bei Magdeburg ansässigen Kommanditgesellschaft Fahlberg, List & Co., ein – der weltweit ersten Saccharinfabrik. Der russische Chemiker und Kompagnon Constantin Fahlberg (1850 – 1910) hatte bei Untersuchungsreihen an Verbindungen aus Steinkohlenteer den süßen Geschmack des Benzoesäuresulfimid entdeckt und es patentieren lassen. Am 9. März 1887 wurde in Salbke bei Magdeburg die Produktion des zuckerfreien Süßungsmittels aufgenommen. Im Laufe seines Lebens wird Adolph Moritz List innerhalb des Unternehmens Aufgaben und Funktionen abwechselnd in Aufsichtsrat wie Vorstand übernehmen.
Alt Salbke 63
39122 Magdeburg
Deutschland
In der europäischen Zuckerindustrie, zu der auch die Süßstoff-Produktion zählte, entwickelte sich am Ende des 19. Jahrhunderts eine zunehmende Konkurrenzsituation, die für das Unternehmen von Adolph Moritz List und seinem Geschäftspartner Constantin Fahlberg nicht ohne Folgen blieb. Für eine Erweiterung der Produktpalette war zusätzliches Kapital vonnöten, was die Umwandlung der Firma in eine Aktiengesellschaft – zur Saccharin-Fabrik AG – notwendig machte. Adolph Moritz List stand ab dem Jahr 1900 in der AG für 19 Jahre dem Aufsichtsrat vor. Als Folge erfolgreicher Lobbyarbeit der deutschen Zuckerindustrie erfolgte am 7. Juli 1902 per Gesetz das Verbot von Süßstoff. Lediglich an Diabetiker durfte das Produkt noch abgegeben werden. In der Konsequenz dieser Reglementierung wurde zunächst Schwefelsäure zum Haupterzeugnis des Unternehmens.
Bereits 1907 hatte der habilitierte Chemiker und Hochschullehrer August Klages als Nachfolger des erkrankten Constantin Fahlberg die technische Leitung des Betriebs übernommen. Einige Zeit nach dem Tod Fahlbergs am 15. August 1910 begann unter Klages Leitung die pharmazeutische Produktion, der später Farbprodukte sowie Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel folgten. Im Ersten Weltkrieg wurde dann auch die Saccharinproduktion wieder freigegeben. In der Folge brachte dies dem Unternehmen, verbunden mit der umfangreichen Erweiterung des Produktionssortiments, in den ersten Nachkriegsjahren einen enormen Gewinnzuwachs. Im Jahr 1919 wechselte Adolph Moritz List vom Aufsichtsrat auf den Stuhl des Vorstandsvorsitzenden. Als sich zu Beginn der Inflation ein Rückgang der Rentabilität des Unternehmens abzeichnete, ging List eine Koalition mit der „Kokswerke und Chemische Fabriken AG Berlin“ ein, die er aber drei Jahre später ebenfalls aus Rentabilitätsgründen wieder auflöste. Adolph Moritz List wechselte wieder zurück in den Aufsichtsrat. Schon seit einiger Zeit hatte er sich über seine berufliche Tätigkeit hinaus als privater Sammler kostbarer Porzellane und kunstgewerblicher Gegenstände einen Namen gemacht.
Hegelstraße 4
39104 Magdeburg
Deutschland
Am 9. April 1897 ehelichte Adolph Moritz List Clara Helene, geborene Steinbach. Das Paar bekam zwei Kinder, die Tochter Anna Elisabet und den Sohn Franz Edward. Die Familie lebte im Zentrum von Magdeburg gegenüber vom idyllischen Fürstenwallpark in einem repräsentativen Stadthaus, welches im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Im Laufe der Jahre trug Adolph Moritz List hier eine beeindruckende Sammlung an Kunsthandwerk, Glas- und Porzellanobjekten in einem Umfang von annähernd 10.000 Stück zusammen.
Die Sammlung bestand mehrheitlich aus europäischem Kunstgewerbe aus dem Zeitraum vom 13. bis zum 18. Jahrhundert. Sie umfasste Möbel, Zinngerät, Bronzen, Silber, Gold, Glas, Schnitzarbeiten aus Elfenbein und Buchsholz, Miniaturen, Emailarbeiten, Schmuck und Uhren, Stickereien, Bildteppiche, Steinzeug, italienische Majoliken, Delfter Fayencen, Porzellan, Zinn, eine Münzsammlung und kirchliches Metallgerät. Es befanden sich auch Gemälde in der Sammlung, vornehmlich aus dem 19. Jahrhundert sowie Schmuckstücke der klassischen Antike.
Es ist bis heute weitgehend unerforscht, auf welchem Weg er die Stücke seiner Sammlung erworben hat und auch, ob ihm ein Kunstagent bei seinen Entscheidungen beratend zur Seite gestanden hat. Allerdings verfügte List als Mitglied der Kunstgewerbevereine von Magdeburg, Leipzig und Wien über gute Kontakte zu anderen Sammlern und zu Fachleuten.
Für seine Porzellansammlung führte er eine Kartothek, in welcher er penibel aufzeichnete, wann und wo er die einzelnen Stücke erworben hat. So ist bekannt, dass die Ursprünge dieses Teils der List-Sammlung bis in das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts zurückreichen. Die heutige Provenienzforschung geht davon aus, dass die Sammlung des Magdeburger Unternehmers Adolph Moritz List schließlich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den bedeutendsten deutschen Privatsammlungen auf dem Gebiet des Kunstgewerbes gehörte.
Wie für andere Sammler der Jahrhundertwende hatte auch für Adolph Moritz List die seinerzeit berühmte Pariser Kunstgewerbesammlung des österreichischen Kunsthändlers Frédéric Spitzer einen gewissen Vorbildcharakter. Diese war im Jahr 1893 versteigert worden und einige Stücke aus dieser Sammlung fanden sich schließlich in der von Adolph Moritz List wieder.
Lists jüdische Eltern hatten sich kurz vor ihrer Eheschließung in Insterburg (heute Tschernjachowski) im Sommer 1856 taufen lassen. Konfessionell betrachtet war Adolph Moritz List demnach evangelisch. Die Fahlberg-List AG hatte die NSDAP zu Beginn der 1930er Jahre mit einer Wahlkampfspende in Höhe von 2 Millionen Mark unterstützt. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten bezeichnete sich Adolph Moritz List als „Arier“, seine beiden Kinder gehörten zeitweilig gar der NSDAP an. Im Jahr 1937 aber, Adolph Moritz List war mittlerweile wieder in den Aufsichtsrat gewechselt, warf ihm auf einer Hauptversammlung der Fahlberg-List AG der aus Berlin-Zehlendorf stammende Kleinaktionär Otto Emersleben eine „nichtarische Abstammung“ vor. Einige Zeit später teilte die Fahlberg-List AG dann mit, dass das „Nichtariertum“ Lists festgestellt worden sei. Der Provenienzforscher Sven Pabstmann führt in einem Aufsatz an, dass anlässlich der Feierlichkeiten zum 50-jährgen Firmenjubiläum NS-Funktionäre und Spitzenvertreter der obersten Landesbehörden mit einer Absage drohten, „wenn Herr Dr. List eine Ansprache halten oder auch nur zu dieser Veranstaltung erscheinen würde“ (Pabstmann, S. 283). List habe daraufhin – offiziell „infolge einer Krankheit“ – nicht an der Feier teilgenommen. Schließlich gab Adolph Moritz List dem Drängen der Firmenleitung nach und legte sein Aufsichtsratsmandat am 15. April 1937 nieder. Damit galt die „Arisierung“ der Fahlberg-List AG aus Sicht der NS-Wirtschaftsführung als abgeschlossen.
Bellevuestraße 7
10785 Berlin
Deutschland
Am 17. Juni 1938, nicht lange nach seinem verfolgungsbedingten Rücktritt aus dem Aufsichtsrat der Fahlberg-List AG, starb Adolph Moritz List. Seine Witwe Clara Helene beauftragte das Berliner Auktionshaus Hans W. Lange in der Bellevuestraße 7 im Berliner Tiergartenviertel damit, Teile der auf eine Million Reichsmark taxierten Sammlung zu versteigern. Dies fand verteilt auf zwei Auktionen statt. Detailliert berichtet der Provenienzforscher Sven Pabstmann davon:
„In einer ersten Auktion, die vom 28. bis 30. März 1939 stattfand, wurden 973 Positionen mit rund 2.000 Einzelobjekten im geschätzten Wert von 357.065 Reichsmark aufgerufen. Die Zuschlagspreise lagen, wie sich anhand annotierter Auktionskataloge, handschriftlich ergänzter Schätzungslisten sowie publizierter Preisberichte feststellen ließ, häufig über den Schätzpreisen. Mit einem erzielten Gesamterlös von 385.478 Reichsmark verlief die Auktion überaus erfolgreich. Der zweite Teil, der 569 Positionen mit ungefähr 1.000 Einzelteilen zur Schätzsumme von 130.190 Reichsmark umfasste, kam vom 25. bis 27. Januar 1940 unter den Hammer. […] Wie die Versteigerungsberichte für Hammerpreise über 500 Reichsmark ansatzweise zeigen, war die zweite Auktion wohl ein vergleichbarer Erfolg.“ (Pabstmann, S. 284 f)
Clara Helene List verkaufte die Kunstsammlung vermutlich nicht aus finanzieller Not. Unmittelbar nach den beiden Versteigerungen erwarb sie in Leipzig drei Mietshäuser für eine Kaufsumme von rund 300.000 Reichsmark, weshalb davon auszugehen ist, dass die Erlöse aus den beiden Auktionen tatsächlich zugeflossen sind und sie frei darüber verfügen konnte. Zudem bezog sie nachweislich bis Dezember 1939 eine hohe Witwenrente. Aus diesem Grund wurde nach eingehender Überprüfung durch die Provenienzforschung ein NS-verfolgungsbedingter Verkauf der Sammlung List […] ausgeschlossen (vgl. Pabstmann S. 286). Gleichwohl wurde mit der Versteigerung der Sammlung List eine der bedeutendsten deutschen Privatsammlungen auf dem Gebiet des Kunstgewerbes zerschlagen.
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