Hochmodern muten die Errungenschaften von Lina Morgenstern (1830-1909) an: Als Jüdin in Preußen initiierte sie über 30 Vereine zur Unterstützung von Frauen in Notlagen und half, den Fröbel-Kindergarten nach England zu exportieren. Gegen den Willen ihrer Eltern heiratete sie Theodor. Eine Liebesgeschichte mit vertauschten Rollen: Als ihr Mann in die Pleite schlitterte und die Familie mit fünf Kindern plötzlich brotlos dastand, schrieb Lina in wenigen Wochen einen Bestseller. Zehn weitere folgten. Hinter der Maske von Linas quirligem Humor verbarg sich die nervöse Unrast einer leidenschaftlichen Unternehmerin. Mit heißem Herzen und kühlem Verstand organisierte sie die erste Zeitung von Frauen für Frauen und zusammen mit Kolleginnen den „1. Internationalen Frauenkongress“ auf deutschem Boden mit über 1700 Besucher*innen aus der ganzen Welt, der politische Wellen schlug.
Lina Morgenstern kam aus einer wohlhabenden jüdischen Familie, doch statt sich zu vergnügen und das schöne Leben zu genießen, kämpfte sie für „das Gute“. Dabei definierte Lina „das Gute“ wie Immanuel Kant: „Gut ist derjenige Wille, der ausschließlich durch Gründe der praktischen Vernunft bestimmt wird und nicht durch Neigungen.“
Bis heute gilt sie als eine der wichtigsten Sozialreformerinnen und maßgebliche Begründerin der ersten Frauen- und Friedensbewegung. Ihre Geschichte ist eine, die Mut macht.
Rekel, Gerhard J., Lina Morgenstern – Die Geschichte einer Rebellin, Wien, 2025
Morgenstern, Lina, Münchner Stadtzeitung, Selbstporträt, München, 26.03.1892
Oppitz, Martin, Adressbücher der Haupt- und Residenzstadt Breslau, Bibliothek Herne, 1843, 1848, 1852
Übel, Zitta, Märchenbücher und Volksküchen - Zum Wirken der Frauenrechtlerin Lina Morgenstern, Berlin, 1997
Morgenstern, Clara: Die Schöpferin der Berliner Hausfrauenbewegung Lina Morgenstern. Zu ihrem 100. Geburtstag am 25. November 1930. In: Central Vereins-Zeitung. Blätter für Deutschtum und Judentum, Berlin, 21.11.1930, Seite 609 ff.
Wrede, Richard & Reinfels, Hans von, Das geistige Berlin, Erster Band, Berlin, 1897, Seite 348 ff.
Mittheilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus, Nr. 42, 6. Jahrgang, Berlin, 18.10.1896
Vossische Zeitung, Beilage: Das Unterhaltungsblatt, Nr. 276; Martha von Jobelitz: „Die Mutter der Volksküche.“ Zum 100. Geburtstag; 26.11.1930
Plac Solny 2 (Früher: Blücherplatz 2, Breslau)
Wrocław, Polen
50-438 Wrocław, Polen
Polen
„Mitten im Herzen der Stadt Breslau, dem alten, schönen gotischen Rathaus zur Seite, erblickte ich das Licht der Welt“, rekapitulierte Lina Morgenstern in einem Selbstporträt in der Münchener Stadtzeitung. Geboren wurde sie am 25. November 1830. Als drittes von sechs Kindern wuchs sie in einer Fünfzimmerresidenz am Blücherplatz 2 auf.
Mutter Fanny kam aus einer bürgerlichen, jüdischen Familie, Vater Albert etablierte sich als Möbel- und Antiquitätenhändler. Großen Einfluss hatte Linas Großvater, Vorsteher der Jüdischen Gemeinde in Krakau. Lina lernte die Gebete in hebräischer und aramäischer Sprache, ohne die Sätze vollständig zu verstehen. Je älter sie wurde, umso mehr neigte sie zu einer freien Auffassung der Menschenliebe. Hin und wieder, zu den großen Feiertagen, besuchte sie die 1827 erbaute Synagoge zum Weißen Storch, die sich nur wenige Gehminuten vom elterlichen Wohnsitz auf einem großen Hof befand und über einen prächtigen Thoraschrein verfügte.
Besonders beeindruckte Lina ihr Religionslehrer Abraham Geiger, der zum selbstständigen Nachdenken über ethische Bestimmungen ermutigte. Er trat dafür ein, den Gottesdienst durch Musik und Chor sowie Beten in der Landessprache den Menschen näherzubringen.
Zu Linas 18. Geburtstag veranstaltete ihr Vater ein Fest. Lina langweilte sich – und präsentierte spontan eine Idee: Jeder Anwesende sollte monatlich einen Pfennig für Schulmaterial und Kleidung armer Arbeiterkinder spenden. Einige Gäste versuchten, sich elegant aus der Affäre zu ziehen: Wer garantiere, dass die Spenden die Richtigen erhalten? Sollen die Zuwendungen nur jüdische Kinder bekommen? Eloquent konnte Lina die Zweifel zerstreuen. Noch auf dem Fest begann sie, Geld einzusammeln. Es gelang ihr, nahezu alle Gäste von einem „Spendenabo“ zu überzeugen. Der Pfennigverein existierte dreißig Jahre lang, unterstützte 16 000 Kinder und war Linas erstes erfolgreiches Wohltätigkeits-Unternehmen.
Charlottenstraße 87
10969 Berlin
Deutschland
Im Juni 1866 eskalierte der Konflikt zwischen Preußen und Österreich - ein Krieg stand bevor. Ehemänner mussten zum Militär und ihre Familien verlassen. In Berlin überall Hunger. Lina erkannte die Not und hatte eine Idee: Sie wollte eine Volksküche gründen. Auf eine neue Art. Das Unternehmen sollte sich selbst erhalten, ohne staatliche Hilfe. Allerdings verfügte sie weder über Anfangskapital, noch über Räumlichkeiten und Personal. Wie also die Idee umsetzen?
Eine schlaflose Nacht. Im Morgengrauen Heureka, Lina hatte einen Plan: Spenden als Anfangskapital, freiwillige Helferinnen in der Küche und ein günstiger Raum. Doch die Behörden wollten ihr keinen Saal stellen, auch konnte sie niemand finden, der ihr Anfangskapital borgte. Lina überzeugte Frauen aus dem Bürgertum, unentgeltlich beim Kochen und Essenverteilen zu helfen - die „Ehrendamen“. Vor Kriegsbeginn noch beabsichtigte sie die erste Küche zu eröffnen. Dafür benötigte sie dringend Geld. Ihre Idee: Ein Spendenaufruf in einer renommierten Zeitung.
Wie aber an den Chefredakteur der angesehenen Vossischen Zeitung gelangen, wie ihn überzeugen? Trotz Gegenwinds gelang es Lina, mit einem ausgeklügelten Manöver mittels Spendenaufruf eine beträchtliche Summe einzusammeln.
Davon wollte sie Geschirr kaufen und einen Raum mieten. Doch Lina kam an das von ihr organisierte Geld nicht heran, denn die Männer des von ihr gegründeten Volksküche-Vereins verhinderten das - nur Männer durften in dieser Zeit juristisch einen Verein oder eine Firma gründen und Geld verwalten. Diese Männer aber zweifelten plötzlich an Linas Fähigkeiten, so schnell eine Küche eröffnen zu können. Nach harten Diskussionen genehmigte ihr der Vorstand eine Teilsumme. Sofort legte Lina los. Linas Kochkünste, der Duft der Suppen und ihr Konzept zogen Gäste an, die Volksküche entwickelte sich rasch zum Erfolg, sechzehn weitere folgten.
Zahlreiche europäische Städte übernahmen Linas „Business-Konzept“ ohne staatliche Förderung, so z. B. Stockholm, Budapest, Wien sowie 25 anderen Metropolen.
Friedrichstraße - Ecke Behrensstraße
10117 Berlin
Deutschland
Um sich von ihrem dominanten Elternhaus in Breslau zu befreien, ging Lina mit Theodor Morgenstern nach Berlin. Dort bezog das frisch vermählte Ehepaar eine Wohnung in der Potsdamer Straße 139. Als Lina schwanger wurde, verfolgte Theodor eine Geschäftsidee: Er wollte ein Etablissement eröffnen, wie es Berlin noch nie gesehen hatte - ein exklusives, internationales Modehaus in der noblen Friedrichstraße! Theodor kaufte die feinsten Kollektionen aus Paris, London und Istanbul und präsentierte seiden-, gold- und silbergewirkte Kleider auf zwei Etagen. Die Leipziger lllustrirte Zeitung jubelte: „Dank der verfeinerten Bedürfnisse der Zivilisation, die nun Theodor Morgenstern erfüllt, wird Berlin endlich eine Weltstadt.“
Aufwendig warb Theodor mit teuren Zeitungsanzeigen um kaufkräftige Kundinnen, während Lina zum zweiten Mal schwanger wurde. Nachts befasste sie sich mit den Erziehungsmethoden des Pädagogen Friedrich Fröbel; für ihn hatten die Frauen die Zukunft der Menschheit in der Hand. Sie gestalteten die ersten Lebensjahre, den entscheidenden Zeitabschnitt. Kaum schliefen die Kinder, transkribierte Lina aus Fröbels komplizierten Schachtelsatz-Schriften einen lesbaren Artikel. Gleichzeitig sorgt sie sich, denn es besuchten zwar viele Damen Theodors Geschäft, doch sie kauften wenig. In Wahrheit ging es der Familie immer schlechter. Ein drittes Kind verschärfte die Lage. Plötzlich konnte das Paar die Miete nicht mehr bezahlen, Theodor schlitterte in den Bankrott. Heftige Existenzängste plagten das Ehepaar: Wie die immer größer werdende Familie ernähren?
Da gelang es Lina, den Chefredakteur des erfolgreichen Modemagazins BAZAR von ihrer Buchidee über Friedrich Fröbel zu überzeugen. In nur vier Wochen verfasst Lina „Das Paradies der Kindheit“. Über 280 Seiten! Das Handbuch der Fröbel´schen Lehre erlebte sieben Auflagen, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und stieß eine öffentliche Diskussion zum Thema gewaltfreie Erziehung an. Vor allem schlussfolgerte Lina: Aus dem Verfassen von Büchern ließ sich für sie eine Profession schaffen, um die Familie zu versorgen. Was ihr auch gelang. Weitere Bestseller folgten.
Ostbahnhof - Friedrichshain
10249 Berlin
Deutschland
1870. Die Deutschen besiegten die Franzosen, die Regierung feierte, Berlin jubelte. Nicht gedacht hatten die Offiziere daran, die zurückkehrenden Soldaten an den Berliner Bahnhöfen mit Essen zu versorgen. Das sollte nun Lina Morgenstern übernehmen. Innerhalb weniger Stunden!
Lina holte ihre freiwilligen Helferinnen aus den Volksküchen, die sofort zu kochen begannen. Was aber erwartete der Kriegsminister von Lina? Eine Siegesfeier?
Kurz darauf rollte der erste Zug in den Ostbahnhahnhof. Zur Begrüßung hasteten viele Berliner zum Bahnsteig, sie sangen patriotische Lieder, tanzten, tranken, wollten ihre siegreichen Kämpfer hochleben lassen.
Als die ersten Helden die Waggons verließen, verstummten die Jubelnden plötzlich. Ein seltsames Schweigen breitete sich aus. Die meisten Soldaten konnten sich kaum aus eigener Kraft bewegen, viele hatten einen Arm oder ein Bein verloren, andere waren durch Verletzungen entstellt. Die „siegreichen Helden“ wirkten wie „dem Tod geweihte Verlierer“.
Auf dem Bahnhof fand Lina keinen Arzt, keinen Sanitäter, keine Medikamente. Die Regierenden feierten den Sieg, die Verwundeten hatten sie vergessen.
Spontan improvisierte Lina im Bahnhofsschuppen ein Lazarett. Mit ihren freiwilligen Helferinnen reinigte und verband sie Wunden. Tag und Nacht. Bis zur völligen Erschöpfung. Staatliche Hilfe kam keine. Auch nach Wochen nicht. Dafür täglich neue Züge. Darin auch verletzte, französische Gefangene, um die sich erst recht niemand kümmerte. Lina und ihre sieben Helferinnen kauften auf eigene Rechnung Verbandszeug und versorgten auch die Franzosen, am Ende waren es etwa 300.000 Soldaten und über 6000 Verletzte, Freund und Feind.
Nach Monaten besuchte ein Militärarzt das Lazarett. Statt zu helfen, bezichtigte er Lina, Simulanten nicht zurück an die Front gesandt sowie schwer Verletzte falsch behandelt zu haben. Er werde sie vor ein Militärgericht stellen – wegen „fahrlässiger Hilfeleistung mit Todesfolgen“!
Zu Hause machte Theodor einen familiären Kassensturz: „Wir haben nicht einmal mehr Geld für einen Rechtsanwalt.“ Lina stand mit ihrer siebenköpfigen Familie am Abgrund.
Großbeerenstraße 5
10963 Berlin
Deutschland
Lina Morgenstern wollte eine Zeitung gründen. Ausschließlich von Frauen für Frauen. Ohne Mode, Klatsch und Tratsch. Dafür mit juristischer, medizinischer und lebensmitteltechnischer Beratung als auch, um für Frauenrechte zu kämpfen. Da sie keinen Investor fand, riskierte sie die gesamten Einnahmen aus ihren Buch-Verkäufen.
Die Zensurbehörden unter Bismarck machten es bereits Männern schwer, eine Zeitung zu führen. Erst recht unmöglich war es, für Frauen eine zu gründen! Bismarck hatte Überwachung und Zensur verstärkt, über 6000 Staatsdiener kümmerten sich in Berlin um Ruhe und Ordnung, unterstützt von einer Schar Geheimer in Zivil, die permanent Flugblätter und Zeitungen kontrollierten. Die Berliner ätzten: „Statt Gas und Elektrizität, an jeder Ecke ein Schutzmann steht!“
Um die Zensur zu umschiffen, wandte Lina einen raffinierten Trick an: Sie gründete keine Zeitung, sondern gab bloß ein „Informationsblatt“ ihres Berliner Hausfrauenvereins heraus. Dagegen konnte kein Amt was haben. In Wahrheit hatte das „Informationsblatt“ alle Merkmale einer kritischen Zeitung, die sich für Wohlfahrt und Frauenrechte einsetzte. In diesem Zusammenhang gründete Lina Vereine, die für alleinerziehende, haftentlassene und arbeitslose Frauen sowie Prostituierte kämpften. Linas Motto: „Wir Frauen verlangen nicht Gnade, sondern Gerechtigkeit!“
Sofort wetterte der Antisemit Dr. Bachler in seiner Staatsbürgerzeitung dagegen, machte sich über das „Damenblättchen der Frau Lina“ lustig. Schon bald aber war Linas Hausfrauenzeitung ohne Klatsch und Tratsch erfolgreicher als Dr. Bachlers Gazette. Bis nach Australien gewann Lina Abonnentinnen.
Rathausstraße 15
10178 Berlin
Deutschland
In ihren frühen Jahren ging Lina Morgenstern nach dem Motto vor: „Erst muss die Not gelindert werden, für politische Visionen bleibt immer noch Zeit.“ Das änderte sich, als sie älter wurde. Nun wollte sie Größeres bewegen, denn ihr fiel auf: Die Not von über einer Million alleinstehenden Frauen ohne Arbeit wurde immer größer. Sie entschloss sich, politischer zu werden. Ihre Idee: Der 1. Internationalen Frauenkongress auf deutschem Boden, organsiert zusammen mit anderen klugen Frauen. Doch einige zweifelten: Wie sollte das ohne Geld funktionieren, wo der Kongress stattfinden? Wie die strenge Zensur umschiffen und wo könnten die vielen Besucher überhaupt nächtigen? Lina rang darum, Klassenkämpferinnen, Arbeiterinnen-Vereine und Bürgerliche unter einen Hut zu bekommen, denn schließlich sollte es beim Kongress um Forderungen gehen, die alle Frauen betrafen. Was nicht einfach war.
Trotz heftigen Widerstands empfing Lina und ihre Kolleginnen im Herbst 1896 im Roten Rathaus über 1700 Besucherinnen aus der ganzen Welt. 65 internationale Zeitungen berichteten neun Tage lang. Die Delegierten forderten das Wahlrecht für Frauen, Zugang zu Ausbildungen und Universitäten sowie die juristische Gleichstellung in Geschäftsangelegenheiten. Der Kongress schlug politische Wellen, die geschickte Auswahl der Rednerinnen und der musterhafte Verlauf der Versammlungen“ wurden mehrheitlich gelobt. Widerwillig stellte ein Reporter der konservative Kreuzzeitung fest: „Die Stimmung war, vom Standpunkt der Freunde der Frauenbewegung, eine vortreffliche!“ Sogar die schärfsten Kritiker mussten zugeben: “Die Vorsitzenden Lina Morgenstern und Rosalie Schönflies haben jedenfalls erreicht, dass die Zeitungen acht Tage hindurch spaltenlange Berichte über den Kongress gebracht haben.“ Das Berliner Tageblatt lobte: „Lina Morgenstern war es gelungen in einer Zeit der politischen Spaltung neue Brücken zu bauen“.
Bald darauf gaben sogar konservative Politiker zu, dass mehr für Frauen getan werden müsse. In den folgenden Jahren wurde der Zugang zu Abitur und Universitäten für Frauen erleichtert, weitere Verbesserungen folgten. Langsam. Sehr langsam.
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