Stadtspaziergang: Die Verlorene Straße

Die im „Scheunenviertel“ gelegene Grenadierstraße (heute: Almstadtstraße) wurde seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Anlaufstelle, Zwischenstation und Lebensmittelpunkt osteuropäisch-jüdischer (Flucht-)Migration. Hier lebten, vorübergehend oder dauerhaft, Juden*Jüdinnen, die vor den Pogromen im Zarenreich oder nach dem Ersten Weltkrieg geflüchtet waren. In der Weimarer Republik entwickelte sich die Grenadierstraße zu einem lebendigen Zentrum osteuropäisch-jüdischen Lebens, zugleich wurde sie schon vor und noch mehr nach 1933 zum Zielort antisemitischer Gewalt. 

Der Stadtspaziergang erkundet die Geschichte der Straße in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus anhand ausgewählter Gebäude und besonders eindrücklicher Biografien. Dabei sollen gängige Stereotype über das Leben in diesem Viertel in Frage gestellt werden. Zudem soll der digitale Spaziergang einen Beitrag zur lokalen Erinnerungskultur leisten und die im heutigen Straßenbild kaum noch sichtbare wechselvolle Geschichte dieser Wohngegend thematisieren. 

Der Spaziergang wurde maßgeblich von Studierenden der Humboldt-Universität zu Berlin auf Grundlage neu recherchierten Quellenmaterials entwickelt.

Adresse

Münzstraße 4
10178 Berlin
Deutschland

Dauer
45.00
Literatur
Geisel, Eike (Hrsg.), Im Scheunenviertel. Bilder, Texte und Dokumente, Berlin 1981, S. 144-145.
Helas, Horst, Die Grenadierstraße im Berliner Scheunenviertel. Ein Ghetto mit offenen Toren (Jüdische Miniaturen Bd. 98), Berlin 2010.
Liebermann, Mischket, Aus dem Ghetto in die Welt. Autobiographie, Berlin 1977.
Saß, Anne-Christin, Berliner Luftmenschen. Osteuropäisch-jüdische Migranten in der Weimarer Republik (Charlottengrad und Scheunenviertel Bd. 2), Berlin 2012.
Schneersohn, Fischl, Grenadierstraße, aus dem Jiddischen übersetzt von Alina Blothe, Göttingen 2012.
Länge
0.40
Stationen
Adresse

Münzstraße 4
10178 Berlin
Deutschland

Geo Position
52.5243905, 13.4091517
Titel
Einstieg: Straßenschild Almstadt- Münzstraße
Stationsbeschreibung

Die breite Straßenecke Münzstraße-Almstadtstraße erlaubt einen Einblick in die Straßenflucht der ehemaligen Grenadierstraße (heutige Almstadtstraße). Der Stadtspaziergang beginnt am Straßenschild: 2021 hat der Wiener Künstler Sebestyén Fiumei ein zweites Straßenschild mit dem hebräischen Straßennamen angebracht. Fiumei machte mit dieser Installation darauf aufmerksam, dass die osteuropäisch-jüdische Geschichte der Straße kaum noch sichtbar ist. Außer rund 20 Stolpersteinen gibt es kaum Informationen und nur wenige originale historische Zeugnisse. 

Die Geschichte der Straße muss also erkundet werden. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit den kursierenden Stereotypen über Viertel und Straße. Das „Scheunenviertel“ lag zunächst außerhalb der Stadt und nicht in „Mitte“. Darum entwickelte es sich im 19. Jahrhundert als randständiges, sozial schwaches Viertel. Hier lebte die Arbeiterschaft und hier fand die Arbeiterbewegung eine Anhängerschaft. Seit 1926 hatte die KPD-Zentrale, das Karl-Liebknecht-Haus, hier ihren Sitz (heute die Parteizentrale der Partei Die Linke). Besonders nach dem Ersten Weltkrieg galt das Viertel als ein Hotspot von Kommunismus und Kriminalität, als „Problemviertel“, wie man heute sagen würde. Dort trieben zum Beispiel die aus der erfolgreichen Fernsehserie Babylon Berlin bekannten Ringvereine ihr Unwesen. Zudem galt es als armes jüdisches Viertel, als „Schtetl“ in Berlin. Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war das Scheunenviertel – mit der Grenadierstraße als zentraler Achse – zu einem Knotenpunkt der jüdischen Fluchtmigration aus Osteuropa geworden. Die Grenadierstraße diente als Anlaufstelle tausender Flüchtlinge, die sich vor Antisemitismus und Pogromgewalt – vor allem im Zarenreich –  gerettet hatten. Manche zogen weiter in die USA oder nach Palästina, andere blieben in Berlin. Jenseits der Stereotype war die Straße ein vielfältiger Ort: jüdisch und nicht-jüdisch, arm und etabliert, links und rechts, alltäglich und gewalttätig. 

Vom Straßenschild aus lässt sich die Straße fast bis zum anderen Ende überblicken, wo sie an der Linienstraße endet. Dieser Blickwinkel wurde häufig genutzt, um das Treiben vor Ort sichtbar zu machen. Abraham Pisarek fotografierte aus dieser Perspektive das osteuropäisch-jüdische Leben in der Straße. Im Nationalsozialismus wurden Fotos der Straßenflucht instrumentalisiert, um den antisemitischen Topos vom „jüdischen Bolschewismus“ zu inszenieren. Die Menschen wuchsen darauf zu einer dunklen, vermeintlich gefährlichen Masse zusammen. Bekannt sind die Bilder der großen Razzia, die kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im April 1933 hier stattfand. In einer flankierenden Radioreportage wurden Straßenbewohner*innen osteuropäisch-jüdischer Herkunft wie von der Gestapo verhört, anstatt nach journalistischer Manier befragt. 

Kursierende Klischees und Stereotype können aufgebrochen werden, indem der Fokus auf einzelne Häuser und Familiengeschichten gerichtet wird. Der Spaziergang sensibilisiert für die alles andere als unbedeutenden Geschichten konkreter Gebäude und derjenigen, die in ihnen lebten. So entsteht eine Mikrogeschichte im kleinsten Maßstab, die große Dimensionen annimmt, wenn man sich ihr zuwendet: Bau- und Fassadengeschichte, die Geschichte der Höfe und der Gaststätten im Souterrain auf Straßenhöhe (Grenadierstraße 20, Kempler), die Geschichte der Wohnungen und Geschäfte,  sowie die Geschichte der Institutionen einer engagierten Fluchthilfe, die Knotenpunkte in einem Netzwerk innerjüdischer Unterstützung wurden, das sich parallel zur Fluchtbewegung aus Osteuropa entwickelte (Grenadierstraße 31, Talmud-Thora-Schule). 

Wir schauen auf die Häuser und ihre Bewohner*innen aus verschiedenen Perspektiven. Dabei liegt ein besonderer Schwerpunkt auf der Geschichte der Straße im Nationalsozialismus. 
Die Grenadierstraße war nicht nur ein (osteuropäisch-) jüdischer Ort, sondern auch ein nicht-jüdischer Ort. Wie waren die verschiedenen Geschichten miteinander verflochten? Wie gestalteten sich die Beziehungen von Juden*Jüdinnen und Nicht-Juden*Nicht-Jüdinnen in der Weimarer Republik und vor allem im Nationalsozialismus (Grenadierstraße 7)? 

An der Ecke Münzstraße/ Grenadierstraße lag die bekannte Unterweltkneipe „Münzglocke“. Im gleichen Gebäude hatte Josef Sand seine Großgarnhandlung. Sand war 1905 vor Pogromgewalt aus dem rumänischen Jassy geflüchtet und baute sich in Berlin schnell eine neue Existenz auf. Das Beispiel zeigt, dass hier nicht nur Flüchtlinge im Transit lebten. Wie lassen sich die Prozesse der Niederlassung und Etablierung beschreiben (Grenadierstraße 7)? Wie gestaltete sich der Alltag in der Straße? Von wem und wie wurden Flüchtlinge aufgenommen? Welche Lebensträume hatten die Menschen, die hier ankamen und sich niederließen? 

Außerdem wissen wir noch wenig über die Zerstörung des Viertels und seiner gewachsenen Strukturen nach 1933. Die Geschichte der Razzien und Polizeigewalt, die sich durch die Geschichte der Weimarer Republik zieht, verschärfte sich nach 1933. Welche Phasen hatte die nationalsozialistische Verfolgung der jüdischen Bevölkerung? Was geschah mit den verfolgten jüdischen Menschen, was passierte mit ihrem Besitz und den Häusern, die sich in der Straße befanden (Grenadierstraße 7, Grenadierstraße 28)?

Adresse

Almstadtraße 10
10119 Berlin
Deutschland

Geo Position
52.5248096, 13.4093669
Titel
Hirsch Lewin und Mischket Liebermann - Almstadtstraße 10/ Grenadierstraße 28
Literatur
Liebermann, Mischket, Aus dem Ghetto in die Welt. Autobiographie, Berlin 1977.
Michalowitz, Micha, Musik in der Grenadierstraße, in: Eike Geisel (Hrsg.), Im Scheunenviertel. Bilder, Texte und Dokumente, Berlin 1981, S. 144-145 (Erstveröffentlichung in: Israelitisches Familienblatt, 6.5.1937).
Stationsbeschreibung

Wie viele Häuser der früheren Grenadierstraße wirkt auch das Gebäude, das sich heute in der Almstadtstraße 10 befindet, auf den ersten Blick recht unscheinbar. Dabei blickt auch dieses Haus auf eine reiche wie wechselvolle Geschichte zurück. Nach 1914 war es Wohn- und Wirkungsstätte mehrerer Menschen, die das Kulturleben der Straße und die Erinnerung daran geprägt haben.

Mischket Liebermann, als Tochter eines Rabbiners geboren, lebte bis zu ihrem neunten Lebensjahr in Galizien. Nach Beginn des Ersten Weltkrieges mussten sie und ihre Angehörigen vor dem nahenden Kampfgeschehen fliehen. Über Oświęcim gelangte die Familie nach Berlin, wo sie sich zunächst in der Dragonerstraße (heute Max-Beer-Straße), später in der Grenadierstraße niederließ. Pinchus EIieeser, Liebermanns Vater, gründete eine eigene Gemeinde, während die Kinder mit Näharbeiten, die die Mutter organisierte, für ein zusätzliches Einkommen sorgten. Im Alltag der zehnköpfigen Familie spielten religiöse Rituale eine wichtige Rolle. Als Heranwachsende lernte Liebermann ein Leben kennen, das sich vornehmlich am jüdischen Festtagskalender orientierte. Dass ihr dieses Leben zu schaffen machte, gibt Liebermann in ihrer Autobiografie zu erkennen. So schreibt sie: „Die unzähligen Gesetze, Riten, Sitten und Gebräuche waren eine ununterbrochene Plage“ (Liebermann: S. 22). Liebermann, die immer wieder gegen die ihr auferlegten Regeln verstieß, zog damit den Zorn ihres Vaters auf sich. Mit 16 Jahren riss sie schließlich von zu Hause aus und stand fortan auf eigenen Beinen. Von ihrem Elternhaus emanzipierte sich Liebermann auch dadurch, dass sie sich politisch betätigte. 1925 trat sie der KPD bei. Für Abwechslung sorgten ferner Theaterbesuche, die sie oft mit Freundinnen unternahm. So sah sie etwa Aufführungen im nahe gelegenen Admiralspalast. Liebermanns eigene Begeisterung für das Schauspiel dürfte hier ihren Anfang genommen haben. Bald schon stand sie selbst auf der Bühne. Langfristige Engagements führten sie nach Minsk und 1933 nach Moskau. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kehrte Liebermann nach Berlin zurück. In der DDR arbeitete sie für das Kulturministerium und stieg zur Funktionärin auf. 

Die Autobiografie, die Mischket Liebermann hinterlassen hat, zeichnet ein äußerst lebendiges Bild des Viertels, in dem sie Teile ihrer Kindheit und Jugend verbrachte. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war die Grenadierstraße, wie auch die umliegenden Straßen, ein hoch frequentierter Transit- und Ankunftsort für jüdische Menschen, die aus Osteuropa in das Deutsche Reich kamen. Einen Einblick in diese Welt gewährt u.a. folgendes Zitat: „Das Berliner Ghetto umgaben keine Mauern, und doch war es eine abgeschlossene Welt. Es hatte seine eigenen Gesetze, seine Sitten und Gebräuche. Die orthodoxen Juden wachten darüber, daß sie streng eingehalten wurden. Es gab eine eigene Versorgung. […] Die enge Grenadierstraße war voller kleiner Läden: Fleischwaren, Kolonialwaren, Grünkram, zwei Bäckereien, na und die Fischhandlung. […] Eigene Handwerker, Schuster, Schneider, Trödler, Hausierer waren da. Und eine koschere Gaststätte mit einer vorzüglichen Küche. Doch im Mittelpunkt standen die zwei Bethäuser mit ihren beiden Rabbinern, den Vorbetern und den Schlattenschammes, den Synagogendienern“ (Liebermann: S. 6). 

Unter anderen Vorzeichen als Liebermann kam Hirsch Lewin nach Berlin. Die ersten Jahrzehnte seines Lebens verbrachte Lewin in Wilna, dem heutigen Vilnius. Seit Herbst 1915 war die Stadt von deutschen Truppen besetzt. Eines Tages wurde Lewin von deutschen Soldaten aufgegriffen und nach Berlin verschleppt. Dort wurde er zum Dienst in einer Fabrik verpflichtet. Dieser einschneidenden Erfahrung zum Trotz entschloss sich Lewin nach Kriegsende dazu, in Berlin zu bleiben und sein Glück in der Stadt zu suchen. Fortan sollte sich ein Großteil seines Lebens in der Grenadierstraße abspielen. Nicht nur privat schlug er hier Wurzeln, sondern auch beruflich. So arbeitete er viele Jahre in der Buchhandlung Gonzer, bis er sich 1930 mit seinem eigenen Geschäft selbstständig machte. Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich Lewins „Hebräische Buchhandlung“ zu einer festen Größe in der damaligen Grenadierstraße. Anders als sein Name vermuten lässt, führte Lewins Geschäft nicht nur Gedrucktes. Eine anschauliche Beschreibung des umfangreichen Sortiments hat Micha Michalowitz geliefert: „Es ist kein grosser, weltstädtischer Laden, o nein, es ist im Gegenteil ein kleiner und unscheinbarer Laden und er ist von oben bis unten vollgestopft mit Büchern, mit jüdischen und hebräischen Büchern. Demnach befinde ich mich also in einer Buchhandlung, in einer jüdischen Buchhandlung, zu der eben noch einiges mehr gehört als eben nur Bücher. Und das kleine Firmenschild im Laden weist auch darauf hin, daß dieser Bücherladen mit einer Fabrikation von Taleissim verbunden sei, daß es hier sämtliche Ritualien gebe, Synagogen-Stickereien, Judaica, Hebraica und - Grammophon-Platten.“ (Michalowitz: S. 145) 

Mit der Zeit verlegte sich Lewin auf den Vertrieb von Schallplatten. Schon 1932 gründete er sein eigenes Label, dem er den Namen „Semer“ gab, hebräisch für Gesang. Früh nahm Lewin dabei auch das Ausland in den Blick. Große Mengen von Schallplatten gingen nach Osteuropa, viele aber auch in die USA. Parallel zum beruflichen Erfolg verschärfte sich auch für Hirsch Lewin und seine Familie die Situation im nationalsozialistischen Deutschland. Die Gewalt des 9. und 10. November 1938 stellte dann alles bisher Dagewesene in den Schatten. Hirsch Lewin war gerade noch rechtzeitig gewarnt worden, um seine Ehefrau und die gemeinsamen Kinder in Sicherheit zu bringen. Die allermeisten Bücher und Schallplatten landeten des Nachts auf einem Scheiterhaufen. Dieser wurde in der Mitte der Grenadierstraße aufgeschüttet und ging in Flammen auf. Was sich anschloss, war eine leidvolle wie verschlungene Verfolgungs- und Fluchtgeschichte, an deren Ende sich alle Familienmitglieder im heutigen Israel wiedertrafen. Doch sollte das Leben für Hirsch Lewin noch eine weitere Wendung bereithalten. In Israel nahmen er und sein Sohn die Produktion von Schallplatten wieder auf. Das von ihnen gegründete Label feierte große Erfolge und gehörte lange zu den größten des Landes.

Adresse

Almstadtstraße 15
10119 Berlin
Deutschland

Geo Position
52.5251516, 13.4091465
Titel
Die Familie Kempler - Almstadtstraße 15/ Grenadierstraße 20
Stationsbeschreibung

Mitte der 1920er Jahre war das Krakauer Café und die Konditorei der Familie David und Liebe Kempler ein florierendes Geschäft und beliebter Treffpunkt in der Nachbarschaft. Hier wurden nicht nur hausgemachte koschere Backwaren angeboten, neben verschiedenen Kuchen und Strudeln standen auch Eis und Bier auf der Speisekarte. Das im Souterrain gelegene Café bot neben dem Verkaufsraum und der Backstube in zwei kleinen Räumen Sitzplätze für seine Gäste. Hatte der gelernte Lebkuchengeselle David Kempler das Ladengeschäft zunächst gemietet, konnte er es Mitte der 1920er Jahre kaufen. 1931 gingen die Geschäfte sogar so gut, dass er für einige Zeit auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein großes Café anmietete, um allen Kund*innen ausreichend Platz für Frühstück und Abendessen zu bieten. 

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, in dem David Kempler als Soldat für die österreichische Armee in Albanien stationiert war, entschied er sich gemeinsam mit seiner Frau Liebe Kempler, geb. Ettinger, und den beiden Kindern Fanny (geb. 1914) und Gusti (geb. 1917) ihr Leben in der Kleinstadt Vishnitz (heute: Wiśnicz) in Galizien aufzugeben. Die Familie Kempler gehörte damit zu der mehrere zehntausend Personen umfassenden Gruppe von Jüdinnen*Juden, die ihre Heimat im östlichen Europa in den Jahren 1918/1919 Richtung Deutschland verließen. Gründe hierfür waren die zunehmende antijüdische Gewalt im Kontext der Nationalstaatsgründungen nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie, die Sorge ins polnische Militär eingezogen zu werden, aber auch die unsichere wirtschaftliche Lage. In der Vorstellung der Kemplers bot Deutschland zudem mehr Chancen beruflich voranzukommen. Wie für viele andere jüdische Migrant*innen war Berlin nicht die erste Station der Kemplers in Deutschland. Davon zeugt der am 24. Januar 1920 im Zuge der Ruhrbesetzung von der britischen Militärverwaltung in Köln ausgestellte Pass für Liebe Kempler.

Spätestens ab 1921 lebten die Kemplers jedoch in Berlin und bauten sich hier erfolgreich eine neue Existenz auf. So bestand ihre im zweiten Stock in unmittelbarer Nähe zur Konditorei gelegene Wohnung in der Grenadierstraße 36 aus sechs Zimmern. Der Salon der Wohnung war mit Standuhr, Kommode und langer Tafel nur ein sichtbarer Ausdruck für das erfolgreiche Bestreben nach einem bürgerlichen Lebensstil. Auch die Familienfotos spiegeln die strengen Konventionen der zeitgenössischen bürgerlichen Atelierfotografie wider. 

Die Auslage der Konditorei war zweisprachig in Deutsch und Jiddisch, und sprach so das jüdische wie nichtjüdische Publikum an. Eine Gruppe von zehn bis fünfzehn jüdischen und nichtjüdischen Kommunisten traf sich regelmäßig im Krakauer Café zum politischen Meinungsaustausch und geselligen Beisammensein. Der 1925 in Berlin geborene Sohn der Kemplers, Hillel, erinnert sich, dass er häufig aufgefordert wurde, bei den Dominorunden mitzuspielen. David Kempler, selbst orthodox – und in der Erinnerung seines Sohnes vollkommen uninteressiert an Politik – pflegte ein sehr gutes Verhältnis zu dieser Gruppe, waren sie doch zahlungsfreudige Gäste. 

Die mittlerweile fünf Kinder der Kemplers gingen auf Schulen in der Umgebung. So besuchte die älteste Tochter Fanny die Mädchenmittelschule der Jüdischen Gemeinde in der Kaiserstraße 29-30, die sie 1931 mit der mittleren Reife abschloss. Hillel wurde 1932 in die Volksschule in der Gipsstraße eingeschult. Sein Einschulungsfoto mit Matrosenanzug und Zuckertüte zeigt, dass sich die Familie zu diesem Zeitpunkt schon ganz an die Berliner Gepflogenheiten angepasst hatte.  

Das gesellschaftliche und religiöse Leben der Kemplers spielte sich zu einem großen Teil im Scheunenviertel ab. Zu Beginn des Schabbats am Freitagabend ging David Kempler ins Schtibl, in dem auch seine Freunde verkehrten. An seiner Kleidung war David Kempler nicht als orthodox lebender Jude zu erkennen. Er trug lediglich einen Bart und war, so Hillel, „ein moderner Orthodoxer“. Isi und Hillel besuchten an einigen Nachmittagen die Talmud-Tora-Schule um Hebräisch zu lernen. Darüber hinaus waren für die Kinder der nahe gelegene Alexanderplatz mit seinen Markthallen und Vergnügungsangeboten, aber auch das Kino Babylon Orte, an denen sie gern die Nachmittage verbrachten. Ausflüge mit der ganzen Familie gingen häufiger in den Grunewald oder an den Wannsee. 

Wäre Hitler nicht an die Macht gekommen, so Hillel in seinen Erinnerungen, „wären wir bestimmt in Berlin geblieben“. Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler veränderte sich das Leben der Kemplers schlagartig. Wurde die Familie zunächst nur Zeuge wie die unter ihnen lebende jüdische Familie Süßapfel eines Nachts von SA-Leuten in ihrer Wohnung bedroht und geschlagen wurden, geriet David Kempler im April in den Verdacht, Kommunist zu sein. Als die Nationalsozialisten eines Nachts David Kempler aus seiner Backstube abholen wollten, versteckte ihn die Portiersfrau Heinz in ihrem Keller. Am nächsten Morgen wurde David Kempler mit der Hilfe eines Verwandten aus der kommunistischen Gruppe in das Umland von Berlin auf einen Bauernhof gebracht, von wo aus er wenig später nach Erhalt eines Touristenvisums für Palästina flüchten konnte. Für die beiden ältesten Töchter Fanny und Gusti, die beide in der zionistischen Jugendorganisation Blau-Weiss aktiv waren, war es ganz klar, dass ihr Vater so schnell wie möglich Deutschland verlassen musste, da er unter diesen Umständen nicht mehr sicher war. 

Liebe Kempler führte gemeinsam mit dem Gesellen die Konditorei noch einige Monate weiter, suchte aber gleichzeitig nach einem legalen Weg mit den Kindern nach Palästina zu emigrieren. Dies war jedoch unmöglich, da David Kempler die Flucht mithilfe eines Touristenvisums gelungen war und er nach Ablauf desselben in Palästina geblieben war, und das Britische Konsulat aufgrund dieser Tatsache für die Familie keine weiteren Visa ausstellen wollte. So entschied sich Liebe Kempler im Oktober 1933 mit Bus und Bahn den Weg nach Israel über Prag, Budapest, Belgrad und Istanbul anzutreten, und dann mit einem Fischerboot illegal überzusetzen. Im September 1933 gelang ihnen auf diesem Weg schließlich die Flucht.

Adresse

Almstadtstraße 16
10119 Berlin
Deutschland

Geo Position
52.5251533, 13.4094779
Titel
Talmud-Tora-Schule - Almstadtstraße 16/ Grenadierstraße 31
Stationsbeschreibung

In diesem Gebäude befanden sich verschiedene religiöse Einrichtungen, wie die Talmud-Tora-Schule und auch die Räumlichkeiten der Synagoge Agudat Jisrael (Beit Hamidrash Jisrael = Haus/ Ort der Zusammenkunft Israels). Außerdem war dort das Hotel Adler mit seiner jiddischsprachigen Kundschaft zu finden. Der Ort verkörpert also in sich selbst die verschiedenen Etappen der Ankunft im Scheunenviertel: die Ankunft im Hotel, in dem Jiddisch gesprochen wurde, und dann die dauerhafte Einrichtung von Gemeinschaftsräumen wie der Synagoge und der Talmud Tora Schule. Diese vielfältigen Funktionen des Gebäudes sind heute nicht mehr zu erkennen. Jedoch konnte man noch bis in die 1980er Jahre deutliche Spuren des jüdischen Lebens in der Almstadtstraße/ Grenadierstraße finden. Erst mit den großen Renovierungsarbeiten in den 1990er Jahren verschwanden die letzten Zeichen dieser Vergangenheit der Almstadtstraße endgültig.

Die hier ansässige Talmud-Tora-Schule, in der heilige Texte gelehrt und studiert wurden, wurde bereits 1918 gegründet. Sie ermöglichte die religiöse Erziehung der traditionell-orthodoxen Kinder aus dem Viertel. Die Schule war in umfunktionierten Wohnräumen untergebracht. Die Schule selbst wurde von circa 130 männlichen Schülern besucht. Unterdessen unterstützten knapp 500 Familien die Schule und trugen so zum Gemeinschaftsleben im Scheunenviertel bei. Das Vorhandensein eines eigenen religiösen Bildungsangebots für die Gemeinschaft der Neuankömmlinge aus Osteuropa, bezeugt die Kluft, die zwischen ihnen und der assimilierten deutsch-jüdischen Gemeinschaft der Stadt teilweise bestand. Die jüdisch-orthodoxe Gemeinde im Scheunenviertel unterschied sich in ihren religiösen Praktiken stark von den deutsch-jüdischen Glaubensgemeinschaften.

Das Hotel Adler, das sich ebenfalls in dem Gebäude befand, kann die beiden im Scheunenviertel vorgefundenen Tendenzen der jüdischen osteuropäischen Gemeinden verdeutlichen. Auf der einen Seite die Art und Weise, wie das Viertel ein Durchgangsort war, ein Raum, den man nur durchquert, bevor man seine Reise noch weiter fortsetzt. Andererseits ist das Hotel aber auch der erste Ort, an dem man sich aufhält, bevor man sich längerfristig niederlässt, wie es viele Familien taten, die später dauerhaft im Scheunenviertel wohnten. Die Anwesenheit des Jüdischen Volksheims in der Nähe verdeutlicht die Armut sowie die kurze Dauer der Durchreise vieler jüdischer Menschen, für die Berlin nur eine Station auf einer längeren Reise war. Die Anwesenheit des Volksheims deutet auch auf die Existenz eigens geschaffener und funktionierender Solidaritätsorganisationen innerhalb der Gemeinde hin. Diese Einrichtungen haben ihre Grundlage auf fest verankerten jüdischen religiösen Werten. Jüdische Bevölkerungsgruppen, die sich in Schwierigkeiten befanden, stützen sich auf karitative Gemeinschaftsstrukturen. Innerhalb dieser Wohltätigkeitsorganisationen konnten übrigens auch Verbindungen zwischen den Neuankömmlingen im Scheunenviertel und der deutsch-jüdischen Gemeinschaft hergestellt werden, die oft in solchen Solidaritätsanstrengungen mobilisiert wurden.

Adresse

Almstadtstraße 43
10119 Berlin
Deutschland

Geo Position
52.5267988, 13.4096471
Titel
Die Fleischerei Süssmann - Almstadtstraße 43/ Grenadierstraße 7
Stationsbeschreibung

In der Zeit, in der das jüdischen Lebens in der Grenadierstraße florierte, befanden sich im Erdgeschoss des Hauses Grenadierstraße 7 verschiedene Geschäfte. Die wechselhaften Biografien der Betreiberfamilien zeugen vom facettenreichen Alltagsleben im Scheunenviertel, das von seinen jüdischen und nicht-jüdischen Bewohnern geprägt wurde. Darüber hinaus steht die Geschichte der zu dieser Zeit im Haus ansässigen koscheren Fleischerei exemplarisch für den ökonomischen Erfolg einiger osteuropäisch-jüdischer Emigrant*innen in Berlin, die sich dauerhaft in der Stadt niedergelassen hatten. Der Prozess ihrer Verwurzelung fand, wie das gesamte jüdische Leben des Viertels, durch die nationalsozialistische Machtübernahme ein gewaltsames Ende.

In den Ladenräumen an der Ecke zur Schendelgasse war in den 1920er und 1930er Jahren eine Gastwirtschaft untergebracht, die von der evangelisch-deutschen Familie Miegel betrieben wurde. Durch ihre Lage und Größe war sie eine zentrale Einrichtung in der Straße. Die Familie Miegel wohnte gleichzeitig in einer Wohnung über ihrem Lokal. Im Haus hatten sie in diesen Jahren viele jüdische, aber auch nicht-jüdische Nachbarn. Dazu zählte auch die Familie Süssmann, die im Erdgeschoss ein koscheres Fleischereigeschäft betrieb. Der Fleischermeister Joseph Süssmann war im Jahre 1912 mit seiner Frau und seinen sechs Kindern aus dem Ort Wiscnitz im polnischsprachigen, damals zu Österreich-Ungarn gehörenden Galizien nach Berlin gekommen. Sie verließen ihre dortige Heimat infolge des ansteigenden Antisemitismus in der Zivilbevölkerung und der antijüdischen Politik lokaler Behörden. Im Gegensatz zu anderen jüdischen Migrant*innen, die aus Osteuropa kamen, war Berlin für die Süssmanns keine Transitstation, sondern schon initial der Zielort ihrer Auswanderung. Hier in dem Haus Grenadierstraße 7 fand die Familie nicht nur ein neues Zuhause, sondern auch einen Raum, in dem Joseph Süssmann seine eigene Fleischerei eröffnen konnte. An der Stelle, an der sich heute noch ein unsaniertes Stück der Originalfassade befindet, betrieb er mit seinem Sohn und einem Schwiegersohn mehr als 20 Jahre sein Geschäft Süssmann & Co. In dieser Zeit hielt die jüdische Familie auch in Berlin an ihren orthodoxen Glaubenstraditionen fest. Ein Ausdruck dessen ist, dass die sechs Kinder der Familie in Berlin jeweils polnischstämmige Ehepartner jüdischen Glaubens heirateten. Sie alle waren meist als Jugendliche und junge Erwachsene mit ihren Eltern migriert und gründeten in der pulsierenden Metropole der Weimarer Zeit gemeinsam ihre eigenen Familien. So kamen die insgesamt 15 Enkel des Fleischers Joseph Süssmann in den 1920er und 1930er Jahren in Berlin zur Welt. Der ökonomische Erfolg und soziale Aufstieg der Familie zeigt sich an den Grundstücken und Wohnhäusern, die in ihren Besitz gelangten. Zu diesen Erwerbungen zählte auch dieses Gebäude in der Grenadierstraße 7, welches teilweise von der Familie selbst bewohnt wurde.

Für ihre Erfolgsgeschichte war die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 ein tiefer Einschnitt. Die Süssmanns waren, wie die anderen jüdischen Bewohner des Scheunenviertels, nicht nur zunehmend antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt, sondern verloren durch die nationalsozialistische Gesetzgebung auch ihr wirtschaftliches Standbein. Aus dieser Notlage heraus gelang vier von Joseph Süssmanns Kindern bis 1939 die rettende Emigration. Sie bauten sich trotz des Verlustes großer Teile ihres Besitzes eine neue Existenz in den USA auf. Der Fleischer Joseph Süssmann und seine beiden Töchter, die mit ihren Familien nicht emigriert waren, wurden hingegen als polnischstämmige Juden*Jüdinnen in den Jahren 1938/39 aus Berlin nach Polen zwangsausgewiesen. Nachdem sie zunächst für einige Zeit in Krakau wohnten, zogen sie in kleinere Städte in der Nähe ihrer galizischen Heimat. Dort wurden sie in den Jahren 1941/42 im Zuge der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik ermordet. Einige ihrer Schicksale gelten aufgrund fehlender Zeugnisse bis heute als ungeklärt. So verliert sich die Spur des Fleischers Joseph Süssmann im Jahr 1942 in seiner polnischen Geburtsstadt Limanowa.

Neben den Süssmanns wohnten vor dem Krieg aber auch zahlreiche andere jüdische Familien in diesem Haus. Zwischen der Gastwirtschaft und der koscheren Fleischerei befand sich in den 1930er Jahren auch noch die Bäckerei von Salem Goldfarb. Während sich die Geschichte der Süssmanns in Unterlagen von Entschädigungsverfahren, Bauakten oder auch Fotografien erhalten hat, lassen sich zur Bäckerei Goldfarb wenig Zeugnisse finden. Gleiches gilt auch für einige jüdische Familien, die zwischen 1939-1943 in diesem Haus in eigens eingerichteten Zwangswohnungen wohnen mussten. In diesen Jahren nutzten die nationalsozialistischen Behörden das Gebäude für ihre antisemitische Wohnungspolitik. So wohnten auch zeitweise andere Jüdinnen*Juden Berlins wie die Familie Dymak hier. Sie wurden letztlich von hier in verschiedene Konzentrationslager deportiert.

Adresse

Almstadtstraße 57
10119 Berlin
Deutschland

Geo Position
52.5277897, 13.4101199
Titel
Abschluss: Die Verlorene Straße
Stationsbeschreibung

Bei den Gebäuden am nördlichen Ende der Straße handelt es sich in erster Linie um Plattenbauten, die aus der Zeit stammen, in der das Scheunenviertel Teil der Hauptstadt der DDR gewesen ist. Blickt man von hier aus zurück in die Straßenschlucht, lässt das Fehlen jeglicher Altbausubstanz die Zeit der Blüte jüdischen Lebens noch ferner erscheinen als im übrigen Teil der Straße. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich einiges gewandelt. Die Berliner Almstadtstraße erlebte über die Jahrhunderte immer wieder tiefgreifende Veränderungen. Zunächst befanden sich auf diesem Gebiet die Scheunen, die dem Viertel bis heute seinen Namen geben. Zu dieser Zeit hatte das Scheunenviertel noch an der Stadtgrenze gelegen, die Scheunen wurden als Speicher genutzt, und die Straße trug noch den Namen „Verlorene Straße“. Im Kontext des rasanten Wachstums Berlins verschwanden die Scheunen, das Viertel wurde Teil des urbanen Stadtzentrums und aus der Verlorenen Straße wurde die Grenadierstraße. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kam es in diesem Stadtquartier dann zu einer Blüte jüdischen Lebens infolge von Migrationsbewegungen aus Osteuropa. 

Die vorgestellten Biografien zeugen von den vielfältigen jüdischen, wie nicht-jüdischen Lebensrealitäten, denen die Straße in diesen Jahrzehnten Platz bot. Die vielen pauschalisierenden Stereotype, die dem Scheunenviertel bis heute anhaften, werden dieser Vielfalt nicht gerecht. Das alltägliche Leben wurde von den Geschäften, wie dem Buch- und Plattenladen von Hirsch Lewin oder der Bäckerei Goldfarb, und von den verschiedenen Gaststätten, wie dem Café Kempler oder auch der Gastwirtschaft Miegel, geprägt. Gleichzeitig verdeutlicht die Geschichte des Hauses Grenadierstraße 31, dass hier auch viele jüdische Glaubens- und Kultureinrichtungen existierten. Die oft einseitigen Darstellungen des Scheunenviertels, ob romantisierend als Schtetl in der Großstadt oder diskriminierend als Ghetto von Berlin, können der facettenreichen Geschichte dieser Straße und dem Leben ihrer Bewohner*innen nicht entsprechen. So zeugt die Biographie von Mischket Liebermann vom Ausbruch einer jungen Frau aus der orthodox-jüdischen Lebenswelt ihrer Eltern und der Hinwendung zu kommunistischen Ideen und dem Theater im Kontext ihres Aufwachsens in der Großstadt. Schließlich steht die Erzählung der Familie Süssmann stellvertretend für den rasanten wirtschaftlichen Aufstieg einiger jüdischer Immigrant*innen, die Berlin nicht nur als Transitstation betrachteten, sondern sich dauerhaft in der Stadt niederließen.

Nach den Schrecken der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges in den 1930er und 1940er Jahren veränderte sich die Straße grundlegend. Sie hatte viele ihrer Bewohner*innen, große Teile der charakteristischen Bausubstanz und auch den Namen Grenadierstraße verloren. Sie lag nun in Ost-Berlin, der Hauptstadt der DDR, und hieß ab 1951 Almstadtstraße, benannt nach dem KPD-Funktionär und Widerstandskämpfer Bernhard Almstadt. In den folgenden Jahrzehnten wurden im Rahmen der sozialistischen Wohnungspolitik marode Gebäude abgerissen und Baulücken mit neuen Plattenbauten gefüllt. Das diverse Alltagsleben und die rege Gewerbetätigkeit der Zwischenkriegszeit kehrten nicht mehr in die Straße zurück. Dieser historische Veränderungs- und Überformungsprozess drückt sich besonders hier im nördlichen Teil der Straße durch die nur noch vereinzelt vorhandenen Altbauten aus. Die verbliebenen Gebäude in der Almstadtstraße, die bauliche Überreste der Vorkriegszeit sind, wurden zudem um die Jahrtausendwende noch aufwendig renoviert. Dabei wurden auch Schriftzüge in deutscher und hebräischer Schrift entfernt, die einige Jahrzehnte überdauert und ursprünglich zu jüdischen Geschäften gehört hatten. Im Rahmen der Sanierungsarbeiten gingen sie unwiederbringlich verloren. So sucht man heute abgesehen von wenigen Ausnahmen vergeblich nach Spuren dieser Episode jüdischer Geschichte Berlins. Umso gravierender ist es, dass auch entsprechende Erinnerungszeichen und Gedenktafeln fehlen. Besonders wenn man bedenkt, dass die jüdische Geschichte der Straße so gewaltvoll ihr Ende fand und viele Familien, deren Biografien eng mit der Grenadierstraße verbunden sind, ermordet wurden:

„Ich gehe wie durch einen Friedhof durch diese Straße, tiefe Trauer und ein Gefühl des Verwaistseins“. So beschrieb die Schauspielerin und Kulturpolitikerin Mischket Liebermann im Jahr 1979 ihre Gefühle beim Durchschreiten der Almstadtstraße. Hier war sie als Kind polnisch-jüdischer Immigrant*innen aufgewachsen und in diese Straße kehrte sie als eine der ganz wenigen jüdischen Bewohner*innen zumindest besuchsweise zurück. Sie bringt in ihren Worten die Leere zum Ausdruck, die immer noch spürbar ist, wenn man das heutige Erscheinungsbild der Almstadtstraße mit dem Leben in der ehemaligen Grenadierstraße des frühen 20. Jahrhunderts kontrastiert. Führt man sich den Verlust dieses historischen Erbes und das Fehlen von Erinnerungszeichen vor Augen, erscheint die Almstadtstraße heute noch mehr als eine Verlorene Straße.

Autor
Franka Maubach, Niklas-Philipp Müller, Laurids Ponßen, Anne-Christin Saß

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