Franz Kafka wurde am 3. Juli 1883 in Prag geboren. Er war das erste Kind von Hermann und Julie Kafka. Sein Vater stammte aus einer Familie jüdischer Handwerker und Händler, seine Mutter aus einer jüdischen Familie, die es mit einer Brauerei zu Wohlstand gebracht hatte. Die Eltern gründeten in Prag eine Galanteriewarenhandlung für modische Accessoires, in der sie beide tätig waren. Franz, seine beiden bereits als Kleinkinder verstorbenen Brüder sowie die drei Schwestern wuchsen hauptsächlich in der Obhut von Kindermädchen und Gouvernanten auf.
Nach der Matura studierte Franz Kafka Jura, er schloss das Studium 1906 mit der Promotion ab. Seine erste Berufsstation war die einer Aushilfskraft bei der privaten Versicherungsgesellschaft Assicurazioni Generali , 1908 wechselte er als Aushilfsbeamter zur Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt.
Bereits als Student begann Kafka zu schreiben. Erste Texte erschienen im Frühjahr 1908 in der Zeitschrift Hyperion. Sein erstes Buch, der Erzählband Betrachtung, erschien Ende 1912, zu seinen Lebzeiten folgten sechs weitere Bücher. Beachtung fanden sie fast nur in literarischen Kreisen.
Am 13. August 1912 lernte Kafka in Prag die Berlinerin Felice Bauer (1887-1960) kennen. Bald schreibt er ihr den ersten von über 500 Briefen und Karten, die heute zur Weltliteratur gehören. Sie dokumentieren das Ringen um eine gleichberechtigte Beziehung, um Beruf und Berufung. Die im August 1917 diagnostizierte Lungentuberkulose sieht Kafka schließlich als Zeichen, dass ihm Ehe und Familienleben versagt sind, und er beendet die Beziehung.
In den folgenden Jahren sucht Kafka immer wieder Besserung oder Stillstand der Tuberkulose in Sanatorien zu erreichen. Vergeblich, zum 1. Juli 1922 wird ihm die Versetzung in den vorübergehenden Ruhestand bewilligt.
Spätestens seit dem ersten Aufenthalt 1910 ist Berlin Kafkas Traumstadt. Die Beziehung mit Felice Bauer bringt ihm die Stadt noch näher, und so mag es die Aussicht gewesen sein, nach der Heirat in Prag eine konventionelle Ehe zu führen, die 1914 zum Scheitern der Verlobung beitrug. Im zweiten Anlauf beschloss das Paar im Juli 1917, sich nach Kriegsende in Berlin niederzulassen, wo Kafka als freier Autor arbeiten sollte. Ein Plan, den die Tuberkulose durchkreuzte.
Mit der Pensionierung im Sommer 1922 rückt Berlin aber wieder in den Fokus. Zwar träumt Kafka auch von Palästina, und die Reise an die Ostsee im Sommer 1923 soll ein Test seiner Reisefähigkeit sein. Die Begegnung mit den Kindern des Jüdischen Volksheims, und vor allem die Begegnung mit Dora Diamant (1898-1952) führen aber dazu, dass er sich am 24. September 1923 den Traum von Berlin erfüllt.
Die folgenden Monate sind einerseits von dem Glück geprägt, in Berlin mit Dora Diamant endlich ein Leben zu führen, wie er es sich erhofft hat, andererseits von seiner Krankheit, von der galoppierenden Inflation und einem besonders strengen Winter. Berlin tut Kafka nicht gut, und im März 1924 fügt er sich dem ärztlichen Rat, sich in ein Sanatorium zu begeben. Es half nicht mehr: Franz Kafka starb am 3. Juni 1924 in einem Sanatorium im niederösterreichischen Kierling.
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Dieser biografische Rundgang ist im Rahmen der Ausstellung "Access Kafka" am Jüdischen Museum Berlin entstanden. Mehr Informationen finden Sie in den weiterführenden Links.
Behrenstraße 55-57
10117 Berlin
Deutschland
Das wilhelminische Berlin galt als Ort sensationeller Vergnügungen. Wer es sich leisten konnte, reiste aus der Provinz für ein paar Tage an und ging in die angesagten Revuen, Varietés und Operetten. Zentrum dieser Vergnügungen war das Viertel rund um die Friedrichstraße mit dem Wintergarten-Theater in der Dorotheenstraße und dem Metropol-Theater in der Behrensstraße als größte Attraktionen.
Das 1898 an historischer Stelle – schon seit 1764 wurde hier Theater gespielt – eröffnete Metropol-Theater errang schnell einen internationalen Ruf als Operetten- und Revuetheater. Die Premieren der großen Jahresrevuen im September waren talk of the town, die Preise für Premierenkarten waren exorbitant. Die anschließenden Repertoireaufführungen konnte man hingegen zu normalen Preisen besuchen: Kafka sah hier Hurra!!! Wir leben noch!, die Revue des Jahres 1910 mit dem großen Star des Metropol, Fritzi Massary (1882-1969).
Kafka zeigt sich allerdings wenig beeindruckt. In einem Brief an Felice Bauer bekennt er am 24. Oktober 1912, er habe damals im Metropoltheater "mit einem Gähnen meines ganzen Menschen größer als die Bühnenöffnung" gesessen.
Fritzi Massary, Tochter einer jüdischen Wiener Kaufmannsfamilie, kam 1904 nach Berlin und avancierte bald zum großen Revue- und Operettenstar, dem ganz Berlin Jahrzehnte lang zu Füßen lag. Ihren letzten großen Erfolg hatte sie 1932 in der für sie geschriebenen Operette 'Eine Frau, die weiß, was sie will' des Komponisten Oscar Strauss und des Librettisten Alfred Grünwald. Randalierende Nazis störten die Aufführungen mit antisemitischen Sprechchören, und Fritzi Massary und ihr Mann, der nicht minder berühmte Max Pallenberg (1877-1934), den Kafka verschiedentlich bei Prager Gastspielen gesehen hat, entschieden sich noch vor Hitlers Machtübernahme, Deutschland zu verlassen.
Oscar Strauss (1870-1954) und Alfred Grünwald (1884-1951) gelang die Flucht aus Nazi-Deutschland ebenso wie anderen bekannten Komponisten des Hauses, darunter Jean Gilbert (1879-1942) und Victor Hollaender (1866-1940). Andere entkamen dem Terror nicht, darunter Leon Jessel (1871-1942), der nach schweren Misshandlungen in Gestapohaft im Jüdischen Krankenhaus starb.
Die von jüdischen Künstlerinnen und Künstlern geprägte Erfolgsgeschichte des Metropol-Theaters endete mit dem Beginn der NS-Zeit, gegen deren Ende, im März 1945, das Gebäude durch Bomben weitgehend zerstört wurde. Nur der Zuschauerraum überstand den Angriff nahezu unbeschädigt und wurde 1946 in den Neubau einbezogen. Man kann heute bei einem Besuch der Komischen Oper darin Platz nehmen.
Schumannstraße 13
10117 Berlin
Deutschland
Franz Kafka hat sich auf seinen ersten Aufenthalt in Berlin offenbar gründlich vorbereitet, mit besonderem Augenmerk auf das Theaterprogramm, denn als er am 3. Dezember 1910 am Anhalter Bahnhof ankam, war bereits klar, welche Aufführungen er besuchen würde. "Fast aus dem Koupe heraus", schreibt er am 4. Dezember seinem Freund Max Brod, sei er "in die Kammerspiele gefahren "; auf dem Spielplan standen Molières Heirat wider Willen und Shakespeares Komödie der Irrungen. Ein paar Tage später sieht er im Deutschen Theater Reinhardts Inszenierung von Shakespeares Hamlet mit Albert Bassermann in der Titelrolle, dessen Darstellung in Kafka eine Begeisterung entfacht, die jahrelang anhält. Als 1913 der Film Der Andere in Prag angekündigt wird, schreibt Kafka in der Nacht vom 4. zum 5. März an Felice Bauer, Bassermann spiele darin. Auf einem Plakat, auf dem er im Lehnstuhl abgebildet sei, habe er ihn "wieder ergriffen, wie damals in Berlin".
Die Erfolgsgeschichte des Deutschen Theaters reicht in die Zeit nach dem deutsch-französischen Krieg 1870-71 zurück, als parallel zum wirtschaftlichen Boom auch das Interesse an kulturellen Veranstaltungen wuchs. Im Jahr 1889 gründete der Theaterkritiker Otto Brahm (1856-1912) mit neun Gleichgesinnten – darunter Maximilian Harden und der Verleger Samuel Fischer – den Verein Freie Bühne, der sich die Pflege des sozialkritischen zeitgenössischen Dramas unter Umgehung der Zensur zum Ziel setzte. Ärmeren Gesellschaftsschichten sollte ein anspruchsvolles Theaterprogramm geboten werden. Brahm übernahm 1894 die Leitung des Deutschen Theaters an der Schumannstraße, und wurde bald als Regisseur zeitgenössischer Dramen und als Begründer des Bühnenrealismus gefeiert. Sein Theater lief der "Burg" in Wien den Rang ab und zog Schauspieler wie den jungen Max Reinhardt an, den Brahm aus Salzburg nach Berlin holte.
Reinhardt verließ das Ensemble nach acht Jahren und gründete 1902 eine Kleinkunstbühne, an der er einen neuen Schauspielstil entwickelte. Bald galt er als experimentierfreudiger Neuerer, und seine sensationellen Erfolge führten dazu, daß er im Sommer 1905 ans Deutsche Theater zurückkehrte und dessen Leitung übernahm. Unter Reinhardt wurde das Gebäude modernisiert und erweitert, unter anderem ließ er eine Drehbühne mit 18 Metern Durchmesser einbauen. Das Casino in der Schumannstraße 13a wurde zu den Kammerspielen umgestaltet, einem intimen Theater mit 300 Plätzen, und das gesamte Gebäudeensemble mit einer neoklassizistischen Fassade versehen. Mit Inszenierungsformen, wie es sie noch nie gegeben hatte, wurde Reinhardt für die nächsten nahezu dreißig Jahre zur beherrschenden Figur im Berliner Theaterleben.
Der gefeierte Theater- und Filmstar Albert Bassermann (1867-1952) verließ Deutschland 1934 zusammen mit seiner jüdischen Frau, und setzte später seine Karriere in Hollywood und am Broadway fort. Max Reinhardt (1873-1943), Sohn einer jüdischen Kleinhändlerfamilie, verließ Deutschland am Abend des Reichstagsbrands. Die ihm angetragene "Ehren-Arierschaft" lehnte er ab.
Bombenschäden am Deutschen Theater und den Kammerspielen wurden nach Kriegsende beseitigt, später der historische Zuschauerraum und die Foyers sorgfältig restauriert. Wer das Deutsche Theater heute besucht, begibt sich in ein Ambiente, das jenem entspricht, in dem Kafka 1910 seine ersten Berliner Theatererfahrungen machte. Und wer dann noch Otto Brahm und Max Reinhardt seine Reverenz erweisen will: Ihre Büsten stehen auf dem Platz vor dem Deutschen Theater.
Askanischer Platz 6
10963 Berlin
Deutschland
End- und Ausgangsbahnhof für Züge nach Prag war der Anhalter Bahnhof. Als Kafka dort am 3. Dezember 1910 erstmals eintraf, gehörte der Askanische Platz vor dem Bahnhof zu den elegantesten Plätzen Berlins. In seinem Umfeld lagen einige der nobelsten Hotels und zahlreiche nicht ganz so luxuriöse, wie etwa der Askanische Hof in der Königgrätzer Straße (heute Stresemannstraße), in dem Kafka auch in den folgenden Jahren immer wieder abstieg.
Der erste, 1841 eingeweihte Anhalter Bahnhof war zur Zeit der Reichsgründung längst nicht mehr den Anforderungen des zunehmenden Bahnverkehrs gewachsen, und es entstand in nur fünfjähriger Bauzeit ein 1880 eröffneter, bis heute legendärer Neubau. Nach Entwürfen des Architekten Franz Schwechten (auf den auch die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zurückgeht) entstand im Neorenaissancestil ein imposantes Empfangsgebäude mit separaten Räumen für den Kaiser und einer Bahnsteighalle, die in ihren Ausmaßen dem heutigen Hauptbahnhof kaum nachsteht: 34 Meter hoch, 170 Meter lang, mit einer lichten Weite von 62 Metern. Zu ihrer Zeit die größte Halle des europäischen Kontinents, eine "Mutterhöhle der Eisenbahnen", wie Walter Benjamin sie nannte.
Die Geschichte von Kafkas Beziehung zu Felice Bauer ist eng mit dem Anhalter Bahnhof verbunden. Er ist Auftritts- und Abschiedsbühne und Ort der Hoffnung und der Enttäuschung. Denn vergeblich kündigte Kafka seiner Freundin und späteren Verlobten immer wieder seine genaue Ankunftszeit an, in der Hoffnung, sie würde ihn auf dem Bahnsteig in Empfang nehmen. Seine Enttäuschung läßt er nur selten laut werden, eher beiläufig heißt es in einem Brief an Felice Bauer vom 13. März 1914: "ich fürchte mich vor dem Bahnsteig, wo ich den Hals verdreht habe, ich fürchte mich vor dem Eingang des Bahnhofs, wo ich den anfahrenden Automobilen entgegengesehen habe ". So einsam wie die Ankunft war wohl auch jedesmal die Abreise. Offenbar waren gefühlige Szenen im öffentlichen Raum nicht Felice Bauers Sache.
Von dem gigantischen Bauwerk des Anhalter Bahnhofs steht heute nur noch der traurige Rest des Eingangsbereichs. Trotz starker Zerstörungen im Februar 1945 standen bei Kriegsende die vier Hallenwände noch, und der Bahnhof galt als wiederaufbaufähig. Der Zugverkehr wurde wieder aufgenommen, beschränkte sich aber auf wenige Fern- und Personenzüge in die sowjetische Besatzungszone bzw. später in die DDR. Ab 1951 nahm der Schienenverkehr ab und kam schließlich nach der durch die Deutsche Reichsbahn der DDR erfolgten Abkoppelung der Anschlüsse völlig zum Erliegen. Trotz starker Vorbehalte von Fachleuten wurde die Halle 1959 gesprengt. Erhalten blieb nur der Portikus mit einem Teil der überdachten Vorfahrt und die Terrakotta-Formteile des Kaiserportals, die heute im Deutschen Technikmuseum besichtigt werden können.
Max-Beer-Straße 5
10119 Berlin
Deutschland
Der Aufstieg Berlins im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zu einer modernen Metropole ist ohne die Mitwirkung jüdischer Berliner kaum vorstellbar. Dabei durften sich Juden erst seit 1671 wieder ansiedeln, ein Jahrhundert nachdem sie aus der Mark Brandenburg ausgewiesen worden waren. Kernzelle der neuzeitlichen jüdischen Besiedlung wurde das Scheunenviertel, ein ursprünglich militärisch genutztes Gebiet im Bereich der heutigen Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, in dem Scheunen zur Lagerung von Getreide, Heu und Stroh errichtet wurden, die wegen der Brandgefahr nicht mehr innerhalb der Stadtmauern gelagert werden durften.
Die dörflich anmutende Ansiedlung nahm mit Beginn der industriellen Entwicklung die vom Land kommenden Bevölkerungsströme auf, Menschen, die sich neue Verdienstmöglichkeiten in der Stadt erhofften. In Wellen kamen im 19. Jahrhundert immer wieder Ostjuden hinzu, die vor Pogromen in Rußland geflüchtet waren und von hier nach Übersee auswandern wollten, von denen viele aber blieben. Für jene, die als Industriearbeiter unterkamen, entstanden Mietskasernen, die anderen nutzten die Schlupfwinkel des Quartiers, um sich irgendwie durchs Leben zu schlagen. Das Scheunenviertel war geprägt von Arbeitern und Tagelöhnern, Kleingewerbetreibenden, Garküchen, Straßenhändlern, Talmudschulen, aber auch von Kabaretts und Kleintheatern, deren Kehrseite Prostitution und Kriminalität waren. Künstler wie Heinrich Zille haben das hier ansässige Elend festgehalten.
Jiddisch war die lingua franca der Auswanderer aus Osteuropa. Der Erste Weltkrieg brachte weitere Flüchtlingsströme ins Viertel, Zehntausende jüdischer Arbeiter wurden für die Rüstungsindustrie rekrutiert. Wegen antisemitischer Ausschreitungen in den Nachfolgestaaten des zusammengebrochenen Habsburgerreichs versiegte der Strom auch nach Kriegsende nicht. Das jüdische Volksheim für ostjüdische Flüchtlingskinder kannte Kafka seit 1916 aus der Ferne, mit Schülerinnen und Schülern kam er im Juli 1923 während seines Urlaubs in Müritz an der Ostsee in Kontakt, wo das Volksheim aus dem Scheunenviertel eine Ferienkolonie hatte. Für den gesundheitlich schwer beeinträchtigten Kafka sollten die Ferien ein Test sein, ob er überhaupt noch weitere Reisen, vielleicht sogar nach Palästina, unternehmen konnte. Auf dem Rückweg nach Prag trifft er sich mit drei ostjüdischen Mädchen aus der Ferienkolonie. Vermutlich lernt Kafka durch sie jetzt auch das Scheunenviertel kennen. Berlin hat da – nicht zuletzt durch Dora Diamant, eine Betreuerin der Ferienkolonie, die er in Müritz kennengelernt hat und die ab September in Berlin seine Lebensgefährtin werden sollte – längst Palästina als Wunschort für einen neuen Lebensabschnitt ersetzt. "Hätten Sie Lust nach Berlin zu übersiedeln? Näher, ganz nahe den Juden?", fragt Kafka den mit ihm befreundeten Medizinstudenten Robert Klopstock Anfang August 1923.
In der Zeit vor dem Weltkrieg spielt das jüdische Berlin in Kafkas Aufzeichnungen und Briefen so gut wie keine Rolle, bis während des Urlaubs mit seiner Berliner Verlobten Felice Bauer in Marienbad im Juli 1916 das Gespräch auf ein Vorhaben kommt, für das Kafkas Freund Max Brod eintrat. Neben Martin Buber, Gustav Landauer und einigen anderen engagierten Zionisten gehörte er zu den Förderern des Jüdischen Volksheims, das am 18. Mai 1916 in Berlin mit einer Rede Landauers über Judentum und Sozialismus eröffnet worden war. In einer im Gründungsjahr erschienenen Broschüre des Volksheims heißt es dazu:
In Anlehnung an das Settlementsystem hat sich das jüdische Volksheim (...) die Aufgabe gestellt, die Kinder und jungen Leute der in der Gegend des Heimes gelegenen, meist von ostjüdischen Einwandererfamilien bevölkerten Straßen in Gemeinschaften (Kindergarten, Jugendkameradschaften, Klubs) zusammenzuschließen, um durch geeignete Führung einen kulturellen Einfluß auf die heranwachsende Generation zu gewinnen.
Während des Krieges gehörten Galizien und andere Regionen im deutsch-russischen und österreichisch-russischen Grenzgebiet zu den Hauptschauplätzen der Auseinandersetzungen. Die jüdische Bevölkerung dieser Gebiete floh nach Westen und bevorzugt in Städte mit großen jüdischen Gemeinden wie Berlin. Für die Kinder dieser Flüchtlinge sollte das Volksheim Bildungs- und Sozialarbeit leisten und auf diese Weise das Verständnis zwischen den arrivierten Westjuden und ihren eher ländlich geprägten Glaubensbrüdern aus dem Osten fördern.
Felice Bauer kam offenbar schnell der Gedanke, sich als freiwillige Helferin zur Verfügung zu stellen. Kafka bestärkte sie darin und versorgte sie von Prag aus, als sie nach entsprechenden Vorbereitungskursen eine Gruppe von 10-12-jährigen Mädchen übernahm, mit Lektüreempfehlungen, mit Büchern und Spielanleitungen. Er ließ sich ausführlich von den Gruppenabenden und den Sonntagsausflügen berichten, gab pädagogische Ratschläge, erkundigte sich nach einzelnen Mitgliedern der Mädchengruppe und beteiligte sich auf diese Weise aus der Ferne. Zwar war er sich mit Felice Bauer in der skeptischen Distanz zum Zionismus einig, zugleich hatte er sich aber – wohl auch aus dem Gedanken einer jüdischen Solidarität, die auf seine Begegnungen mit Flüchtlingen in Prag und Beobachtungen bei der dortigen Flüchtlingshilfe zurückgingen – Positionen des sogenannten Kulturzionismus genähert.
Das Jüdische Volksheim bestand rund zehn Jahre, das Gebäude in der Dragonerstraße, heute Max-Beer-Straße 5, in dem es untergebracht war, steht noch. Allerdings aufwendig restauriert, wie das ganze ehemals proletarische Viertel, den Ansprüchen einer gutbetuchten Klientel entsprechend, die es seit der Wiedervereinigung als "trendig" betrachtet, hier zu leben oder zumindest auszugehen.
Tucholskystraße 9
10117 Berlin
Deutschland
"Zweimal in der Woche und nur bei gutem Wetter gehe ich ein wenig in die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums", berichtet Kafka am 18. November 1923 seinem Freund Felix Weltsch. Die 1872 eröffnete Hochschule war eine autonome, von keiner staatlichen oder religiösen Organisation abhängige, jüdische akademische Institution. Als der wissenschaftlichen Forschung und Lehre gewidmete Lehranstalt wurde sie 1883 von der Stadt Berlin offiziell anerkannt. Im Jahre 1921 hatte die Hochschule 63 ordentliche Hörer und 45 Gasthörer. Viele von ihnen kamen aus Osteuropa und hatten dort jüdische Ausbildungsstätten besucht. Ihren deutsch-assimilierten Kommilitonen, die wie Kafka aus Interesse an ihrem jüdischen Erbe zur Hochschule kamen, hatten sie um einiges bessere Kenntnisse der hebräischen Sprache und der jüdischen Schriften voraus. Um diesen Vorsprung aufzuholen, mußten aus assimilierten Familien stammende Studenten wie Kafka in der Regel die sogenannte Präparandie der Hochschule besuchen. Hier wurden sie mit Quellentexten und Formen der Auslegung vertraut gemacht, wozu gute Hebräischkenntnisse Voraussetzung waren. Sowohl der Lehr- und Forschungsbetrieb als auch der Unterhalt des 1907 errichteten Gebäudes in der Artilleriestraße 14 (heute Tucholskystraße 9) wurde allein aus Mitteln von Spendern und Mäzenen finanziert. In der von der Inflation geschüttelten, noch mehr als sonst hektischen Metropole war die Hochschule für Kafka neben seinem Steglitzer Domizil ein weiterer Zufluchtsort:
Die Hochschule für jüdische Wissenschaft ist für mich ein Friedensort in dem wilden Berlin und in den wilden Gegenden des Innern. [...] Ein ganzes Haus, schöne Hörsäle, große Bibliothek, Frieden, gut geheizt, wenig Schüler und alles umsonst. Freilich bin ich kein ordentlicher Hörer bin nur in der Präparandie und dort nur bei einem Lehrer und bei diesem nur wenig, so daß sich schließlich alle Pracht wieder fast verflüchtigt, aber wenn ich auch kein Schüler bin, die Schule besteht und ist schön und ist im Grunde gar nicht schön, sondern eher merkwürdig bis zum Grotesken und darüber hinaus bis zum Unfaßbar Zarten (nämlich das Liberal-reformerische, das Wissenschaftliche des Ganzen). (An Robert Klopstock,19. Dezember 1923)
Kafka war im Kreis der Hörer eine durchaus auffallende Erscheinung. Der Komponist Josef Tal (1910-2008), Sohn eines an der Hochschule lehrenden Rabbiners, erinnert sich, daß sein Vater diesen besonderen Studenten einmal sogar zum Kaffee nach Hause eingeladen hat. Kafka suchte das Gespräch, gern in hebräischer Sprache, und versorgte sich in der Bibliothek mit hebräischer Lektüre.
Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums existierte bis 1942. Nach 1989 wurde das Gebäude renoviert, seit 1999 ist es als "Leo-Baeck-Haus" Sitz des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Grunewaldstraße 13
12165 Berlin
Deutschland
Schon als er Heiratspläne mit seiner Verlobten Felice Bauer schmiedete stand für Kafka fest, dass sie sich in einem grünen Randbezirk von Berlin niederlassen würden. Als er im Spätsommer 1923 endlich seinen Traum verwirklicht und nach Berlin zieht, fällt seine Wahl auf Steglitz. "Über die nächste Umgebung der Wohnung komme ich kaum hinaus", berichtet er seinem Freund Felix Weltsch am 9. Oktober, "diese ist freilich wunderbar, meine Gasse ist etwa die letzte halb städtische, hinter ihr löst sich das Land in Gärten und Villen auf, alte üppige Gärten. An lauen Abenden ist ein so starker Duft, wie ich ihn von anderswoher kaum kenne."
Kafka ist von seiner Lungentuberkulose bereits schwer gezeichnet: Bei einer Körpergröße von 1 Meter 80 wiegt er 54 kg, immer wieder gibt es Phasen, in denen er von Fieberschüben geplagt wird und das Bett nicht verlassen kann. Ohne die fürsorgliche Betreuung durch Dora Diamant, die er im Juli während der Ferien an der Ostsee kennengelernt hat, wäre es für ihn unmöglich, allein zu leben. Allerdings bringt der Damenbesuch Probleme mit sich, und seiner ersten Vermieterin entgeht auch nicht, dass Kafka offenbar eine gute Pension bezieht: Sie erhöht die Miete. Bereits nach sechs Wochen zieht Kafka von der Miquelstraße 8 (heute Ecke Rothenburg/Muthesiusstraße) in die Grunewaldstraße 13. Seinem Freund Max Brod kündigt er am 1. November 1923 an:
ich werde am 15. November übersiedeln. Ein sehr vorteilhafter Umzug wie mir scheint. (Ich fürchte mich fast, diese Sache, die meine Hausfrau erst am 15 November erfahren wird, zwischen ihren über meine Schultern hinweg mitlesenden Möbeln aufzuschreiben aber sie halten, wenigstens einzelne, zum Teil auch mit mir).
Er bewohnt nun zwei Zimmer und statt der Petroleumlampe gibt es elektrisches Licht. "(…) ich lebe fast auf dem Land, in einer kleinen Villa mit Garten, es scheint mir, daß ich noch niemals eine so schöne Wohnung hatte, ich werde sie auch gewiß bald verlieren, sie ist zu schön für mich", berichtet er seiner Freundin Milena Pollak am 20. November 1923. Kafkas Ahnung bestätigt sich im Januar, als ihm zum 1. Februar 1924 gekündigt wird. Er zieht nun in eine Wohnung in Zehlendorf, in der Heidestraße 25/26 (heute Busseallee 7/9). "Liebste Eltern, die neue Wohnung scheint sich zu bewähren, noch ein wenig stiller dürfte sie werden, sonst ist sie schön", schreibt Kafka am 12. Februar 1924. "Ich lag schon im Schaukelstuhl bei offenem Fenster in der Sonne, nächstens wage ich mich auf die Veranda."
Aber auch dieses Idyll ist nicht von Dauer: Kafkas Gesundheitszustand ist inzwischen besorgniserregend, wie sein Onkel, der Arzt Siegfried Löwy bei seinem Besuch am 21. Februar feststellt. Kafka folgt seinem Rat und verlässt Berlin am 17. März, um sich zunächst nach Prag und dann weiter in ein Heilsanatorium zu begeben.
Von den Wohnhäusern, in denen Franz Kafka während seines knapp sechsmonatigen Aufenthalts in Berlin gelebt hat, steht heute nur noch das Haus in der Grunewaldstraße 13.
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