Für die meisten deutschen Jüdinnen*Juden bedeuteten die ersten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts stetige Veränderungen. Aufklärung und die Besatzung durch die Truppen Napoleons hatte ihnen in weiten Teilen Westdeutschlands für einige Jahre Emanzipation und Bürgerrechte gebracht, bis sie nach dem Abzug der französischen Truppen 1814 flugs wieder zu Bürgern zweiter Klasse wurden. Doch die innerjüdische Aufbruchstimmung hielt an.
In ganz Deutschland bildeten sich verschiedene Gruppen: allen voran die Reformierten. Sie versuchten, das zeitgenössische Judentum zu einer „deutschen“ Religion umzugestalten. Sie veränderten liturgische Elemente in den Gottesdiensten, verkürzten deren Abläufe und führten Gebete und Choräle in deutscher Sprache ein, letztere mit Orgelbegleitung. Jüdische Religionsgesetze sollten gelockert, einige Gebete, wie beispielsweise das für die Wiederherstellung des Tempels, sollten als nicht mehr zeitgemäß abgeschafft werden. In einigen Zirkeln ging man sogar so weit, die Feier des Schabbats auf den Sonntag zu verlegen. Für den bedeutendsten Vordenker und den eigentlichen Begründer der Neo-Orthodoxie, Rabbiner Samson Raphael Hirsch (20.6.1808 bis 31.12.1888), dagegen war und blieb die Tora Maßstab für das jüdische Volk. Gleichzeitig begrüßte er die Emanzipation der Jüdinnen*Juden. Und wie die Vertreter der Reform setzte er sich dafür ein, dass gläubige Jüdinnen*Juden und künftige Rabbiner studieren sollten, weil es ihre Berufschancen verbessern werde; eine Haltung, die vielen Jüdinnen*Juden im Osten Europas unerhört schien. Doch Hirsch strebte tiefergehende Veränderungen an. Ihn bewegte die heute auch für andere Religionen außerordentlich wichtige Frage: „Wie kann das deutsche jüdische Volk in zwei Kulturen leben?“ Viele Jüdinnen*Juden, die sich von Moses Mendelsohn und seinem Streben nach Gleichberechtigung inspiriert fühlten, waren deutsche Staatsbürger*innen in der Gesellschaft und Jüdinnen*Juden zu Hause und in der Synagoge. Das Ideal von Hirsch dagegen wurde der Israel-Mensch, die*der Jüdin*Jude, der – in der Mitte der Gesellschaft – in zwei Zivilisationen lebt, in beiden umfassend gebildet ist und sich völlig mit beiden identifiziert. In seinem Hauptwerk, „Die neunzehn Briefe über das Judenthum“, in dem er sich intellektuell inspirierend und hochkritisch mit der bislang praktizierten Orthodoxie auseinandersetzt, entwickelt der orthodoxe Reformer unter anderem seine Idee von „Tora im Derech Eretz“ – Tora in weltlicher Verbundenheit. Dieser Aufruf an die Jüdinnen*Juden, sich mit vollem Herzen auch der nichtjüdischen Kultur und Bildung zu öffnen, erschien 1836 und fand große Beachtung. Bekannte Jüdinnen*Juden wie der Historiker Heinrich Graetz fühlten sich von dem modernen Ansatz angezogen und baten den Rabbiner, mit ihm lernen zu dürfen. Für Hirsch war die strikte Befolgung des jüdischen Religionsgesetzes kein Widerspruch zum Deutschsein. Im Gegenteil. Die Verpflichtung auch dem Weltlichen gegenüber ergab sich für ihn direkt aus der Tora und dem Talmud. Hirsch bezog sich auf ein Wort des Propheten Jeremia und auf einen Abschnitt in den Sprüchen der Väter. Somit wurden nicht nur das Torastudium, sondern daneben weltliche Bildung wie auch der Patriotismus zur religiösen Pflicht. „Tora im Derech Eretz“ wurde zur zentralen Lehre der Neo-Orthodoxie, die bald die gesamte Orthodoxie prägen sollte.
1876 setzte Hirsch im Preußischen Landtag das „Austrittsgesetz“ durch, das es orthodoxen Jüdinnen*Juden erlaubte, sich von den Gesamtgemeinden zu trennen, die Hirsch als liberal dominiert ansah. In Frankfurt war bereits in den fünfziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts in der Schützenstraße die erste orthodoxe Synagoge für eine Austrittsgemeinde gebaut worden, deren Rabbiner bald Samson Raphael Hirsch werden sollte. Fünfzig Jahre später entstand dann der Nachfolgebau Friedberger Anlage, eines der imposantesten jüdischen Gotteshäuser in Europa. Dem Vorbild der Austrittsgemeinde folgten die Orthodoxen aber nur an wenigen Orten. So gab es in Deutschland bis zur Schoah weiterhin mehrheitlich Einheitsgemeinden, in denen es liberale und orthodoxe Synagogen gab, die beiden ihren verschiedenen Riten folgten, doch andere Gemeindeeinrichtungen wie Friedhöfe gemeinsam betrieben.
Hirsch richtete Schulen ein, in denen die Schüler*innen eine religiöse wie weltliche Ausbildung bekamen, sowie Seminare zur Ausbildung von Lehrer*innen. Den weitestreichenden Einfluss aber hatte die Errichtung des Berliner neo-orthodoxen Rabbinerseminars in 1873. Vollkommen dem Prinzip der „Tora im Derech Eretz“ verpflichtet, verließen die meisten der Absolventen die Hochschule als „Doktor-Rabbiner“, weil sie neben der religiösen Ausbildung zusätzlich in einem säkularen Fach an der Universität promovierten. Während der Seminargründer, Esriel Hildesheimer, das Reformjudentum noch bekämpfte, öffneten sich die folgenden Generationen dem Dialog und der Zusammenarbeit mit den Liberalen. Einer der bedeutendsten Studenten des Seminars, Nehemia Nobel (8.11.1871 bis 24.1.1922), wurde Rabbiner an der orthodoxen Synagoge am Börneplatz in der Frankfurter Einheitsgemeinde, die gebaut worden war, um der Austrittsgemeinde etwas entgegenzusetzen. Nobel förderte den Religionsphilosophen Franz Rosenzweig, indem er ihm die Leitung des Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt übertrug. Ein zweiter großer Rabbiner, den die Hochschule hervorbrachte, Josef Carlebach (30.1.1883 bis 26.3.1942), wirkte in Altona und dann Hamburg. Neben seiner Ausbildung am orthodoxen Seminar absolvierte er ein umfassendes naturwissenschaftliches Studium an der Universität, Max Planck war einer seiner Lehrer. Seine klugen, mit wissenschaftlichen Erkenntnissen angereicherten Vorträge zogen Menschen weit über die Stadtgrenzen aus an. Carlebach schuf die Überschriften für Rosenzweigs „Stern der Erlösung“ – ein Werk, das sich nicht mit Orthodoxie beschäftigte, sondern moderne Philosophie war. Bevor er von den Nationalsozialisten ermordet wurde, amtierte er als Rabbiner der Hauptsynagoge in Hamburg, am heute nach ihm benannten Joseph-Carlebach-Platz. In den 1930er Jahren waren sich deutsche Reform und Orthodoxie so nahe gekommen, dass Professoren und Studierenden einmal die Woche gemeinsame Gottesdienste mit den Absolventen des liberalen Rabbinerseminars hielten, der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, die nur einige Schritte entfernt lag. Einer der Absolventen aus dieser Zeit, Leo Trepp (4.3.1913 bis 2.9.2010), wirkte als letzter Landesrabbiner in Oldenburg und kam nach dem Krieg regelmäßig nach Deutschland zurück, um deutsche Jüdinnen*Juden und Nichtjüdinnen*juden mit der Lebendigkeit und Offenheit der deutschen Neo-Orthodoxie vertraut zu machen, die es nach der Schoah so nicht mehr gab.